Doris Runge - die schönsten versprechen
Das Wasser spielt eine große Rolle in den neuen Gedichten Doris Runges - was verspricht es? Zunächst einmal spricht es. Mit dem, der zu hören versteht, auf das Wasser selbst, auf den Wind, seinen Gefährten. Verschiedene, am Wasser gelegene Orte besucht die Dichterin, betrachtet das Flüchtige, zieht ihre Schlüsse daraus. Nichts wird jedoch hier abgeschlossen, es geht ins Weite hinaus.
Sechs Räume (ich möchte sie nicht Kapitel nennen) durch-schreitet Doris Runge in ihren Gedichten, sie tragen Namen wie "in der tintenschwarzen brandung", "und flüchtig und leicht" oder "das bild vom see".
Seit Jahrzehnten lebt die 1943 geborene Dichterin in der Nähe der Ostsee, dieses raue Meer spiegelt sich in ihrer Poesie.
Ihre Gedichte sind knapp und schnörkellos, das lyrische Ich setzt sich den Naturphänomenen aus, erlebt, wie die nicht zu bändigende Natur auf die Zivilisation trifft.
Sie schreibt über Vergänglichkeit und Verwandlung, über Verlust und verkehrte Welten, über die Natur als Schenkende und Spiegel der Geschichte.
Sie schreibt über existentielle Sehnsucht, wie nah sich Träume und Albträume sein können, aber auch über Praktisches, wie den Umgang mit alten Taschenbüchern beispielsweise, auch darüber, wie die Natur zum Spielball
der Politik werden kann.
Die Gedichte sind kurz, nur wenige haben mehr als ein Dutzend Zeilen, die ihrerseits manchmal nur aus zwei Worten bestehen. Aber sie erzählen eine ganze Geschichte:
windstill
es fällt
die hundertjährige
fichte wurzelte fremd
zwischen eichen und buchen
wird sie fehlen
mit ihren
terrassen und nistplätzen
für die heimischen
Jede Zeile enthält einen eigenen Gedanken, baut ein Bild auf. Die Aussage "zwischen eichen und buchen" ist ein Beispiel für einen Zwischensatz, der zur vorigen und zur nachfolgen-den Zeile gehören kann.
Dieses Spiel mit eingeschobenen Gedanken ist in vielen Gedichten zu finden.
Das gibt ihnen eine schöne Leichtigkeit im Ton, der Aussage eine Mehrdeutigkeit. Im zitierten Gedicht umarmt der kurze Satz Mensch und Tier. Die `fremd wurzelnde´, die den "heimischen" einen Platz gab, dieser Gedanke ist über den konkreten Baum hinaus ein ganz grundsätzlicher.
Besonders schön finde ich die Gedichte aus "melusines zimmer". Die Wasserfee, die seit Jahrhunderten durch die Literatur und Fantasie geistert, erscheint hier als ein Wesen, das "mit zwei beinen / aus der wanne steigen" kann, das in einem Zimmer lebt:
melusines zimmer
hat ecken und kanten
einen tische einen stuhl
eine leselampe
eine alte geschichte
ein sprossenfenster
geöffnet
ins tintenblaue
der mond halbiert
in einer opferschale
kein tropfen blut
Das ist das Zimmer einer jeden Leserin, geopfert wird hier niemand. Wieder der Einschubsatz, "in einer opferschale": hier erscheint der Mond halbiert und es ist kein Blut in der Schale.
So erweitert die Dichterin auf eine faszinierende Weise die kurzen Gedichte zu mehrdeutigen Geschichten.
Das titelgebende Gedicht "die schönsten versprechen" findet sich ebenfalls in "melusines zimmer".
die schönsten versprechen
gingen
auf zwei beinen
an land
sie kamen
ins reich
der wölfe
der wälder
aus stein
und herzen
und hunger
herrschte
dieser alte
unstillbare
hunger
nach mehr
Ich möchte es nicht interpretieren, dieses wunderbare Gedicht. Es könnte die Vorlage für ein Bild, einen Roman, ein Drama oder ein Musikstück sein. Es ist so prägnant, hat kein Wort zu viel oder zu wenig, es fließt von Zeile zu Zeile, es klingt wie Musik, alleine der Aufbau hin zum Wort `hunger´ ist reine Melodie.
Die nur auf den ersten Blick nüchternen Gedichte sind sehr kunstvoll austariert. Sie finden eine Balance zwischen Innehalten und Bewegung (auch in den Worten, wie Leselampe und Stuhl gegenüber Geschichte und Mond), Sehnsucht und Hoffnung, zwischen Trauer und Mut.
Und auch die Ironie schleicht sich immer wieder ein, so in dem Gedicht "rheinsberger impressionen", in dem "der junge friedrich / auf seinem sockel/ das schloss im rücken / den ratskeller im blick" wissen sollte, dass ruppiges, wechselndes Personal ein Gericht serviert, das "fontaneteller" heißt und seinem Namen keine Ehre macht.
Die Gedichte erzählen Geschichten, singen Lieder, weiten den Blick, konzentrieren ihn zugleich. Es ist eine große Freude, sie zu lesen, oder poetischer ausgedrückt, sie sich anzuverwandeln.
Doris Runge: die schönsten versprechen
Wallstein Verlag, 2022, 89 Seiten