Paolo Rumiz - Europa. Ein Gesang

"Europa begeistert uns nicht mehr. Sein Mythos ist verloren gegangen. Bloß ein Gähnen ist es uns noch wert, es gleicht einer Ruine, vom Lauf der Zeit zer-fressen. Wir haben es zugelassen, dass der Traum verblassen konnte, dass Geldwechsler und Händler eingedrun-gen sind in den Tempelbezirk, wir haben unsere Werte verraten."

 

 

Mit diesen harten Worten beginnt das Nachwort des überzeugten Europäers Paolo Rumiz, der mit seinem Gesang den Mythos und Traum von Europa wieder aufleben lassen möchte. 

Er verbindet hier die Geschichte der von Zeus in Gestalt eines Stieres geraubten, nach Kreta entführten und geschwän-gerten jungen Europa, die als die Mutter der europäischen Welt gilt, mit dem Schicksal der vor dem Krieg in Syrien geflohenen Evropa.

 

In Tyros, der alten phönizischen Stadt, heute im Libanon gelegen, trifft Evropa auf vier Männer, die unter Kapitän Petros die Küste entlang segeln. Petros ist Grieche, lange hatte er in England gelebt. Mit an Bord sind Ulvi, ein Türke mit deutscher Mutter, und Sam, ein Franzose mit jüdischer Mutter. Außerdem der Erzähler, ein "Sternkundler aus Dalmatien, dessen Name ungenannt bleibt" - unverkennbar ein Mann, der mit Paolo Rumiz verwandt ist. Eine inter-nationale Gruppe also, unterwegs mit einer alten Jacht, die den Namen "Moya" trägt, als "Argonautenschiff" bezeichnet wird und deren "abgerundetes Heck ... einem Stierleib" gleicht.

 

Die Männer erkennen in Evropa die "Tochter eines Königs", sehen in ihren Augen "Flüchtlingsströme, ganze Völker-schaften und traurige Soldatengesänge aus heiseren Kehlen". Sie sieht sie "an mit einem Blick, der von weit her kam, nicht messbar mit menschlichem Maß."

 

Stück für Stück erfahren die Leser:innen die Geschichte Evropas. Ihre Eltern werden porträtiert, ihre Kindheit und Flucht aus Syrien geschildert, ihre Verheiratung und die Flucht aus dieser Zwangsehe, ihr Schicksal als "Nobelhure" und vergewaltigte Frau. 

Erzählt wird dabei von ihrer Unbeugsamkeit und Stärke.

 

An Bord zieht sie sich zunächst in einen Alkoven zurück, schläft, muss zu Kräften kommen. Dann wagt sie sich hinaus, fasziniert die Männer nicht zuletzt mit ihrem zweigeteilten Gesicht: eine Hälfte ist hart, die andere zart, ein Sinnbild für ihre Persönlichkeit.

 

Die Geschichte der achtzehnjährigen Evropa ist gebettet in den uralten Mythos der Europa, die dem Kontinent seinen Namen gab. In einen Mythos, der älter ist als das Patriarchat, das sich in den klassischen Göttern Griechenlands spiegelt. In einen Mythos, der für die ewige Wiederkehr, das Denken in Zyklen und nicht in Fortschritt und Profit, für die Frucht-barkeit nicht nur im leiblichen Sinne, steht.

 

Paolo Rumiz´ Epos beschreibt die Seereise der Moya entlang der Küste bis nach Sizilien. Indem er das Leben der fünf Reisenden erzählt, beschreibt er die gegenwärtige Situation des politischen Europa, d.h. der Abschottung und der Tatsache, dass das einst verbindende Meer, "mare nostrum", zu einem Massengrab geworden ist. Dieser Gegenwart ist die überzeitliche Erzählung einer Frau, die ihre Heimat verlassen musste, die Grenzen überwindet und von der man nicht weiß, ob sie irgendwann ankommt in der erhofften Freiheit, nicht weiß, wie sie empfangen wird, eingeflochten.

 

Der Gesang, ursprünglich in Versen verfasst, möchte die "Gründungssage" wiederbeleben, den Traum von Europa, der in den "gequälten Herzen der Migranten lebendiger (ist) als im Herzen seiner EU-Bürger".

Diese Sage erzählt Paolo Rumiz ausgesprochen sinnlich. Stürme, sich auftürmende Wellen, Sonne und Mond, Wolken, Vegetation, die Textur von Stoffen, vor allem Gerüche, aber auch Träume oder Visionen, sie alle erscheinen plastisch und lebendig.

 

Eines Tages wird aus Evropa Europa. Sie hat das harte "v" aus ihrem Namen gestrichen. Eines Tages verlässt sie heimlich das Schiff, verschwindet. Zurück bleiben die Männer, die nun ihrer gemeinsamen Sprache beraubt sind, die keinen Sinn mehr darin sehen, als Gruppe zusammen zu bleiben. Jeder geht seines Weges. Die Spur des im Verlauf des Epos selbst zum Mythos gewordenen Petros verliert sich für lange Jahre, bis ein Brief den Erzähler erreicht, der vom Schicksal des alten Seemannes berichtet. Damit schließt sich der Kreis.

 

Das letzte Wort des Gesanges, der die Sterne Europas wieder funkeln lassen möchte, gehört Europa, die dem Erzähler sagte:

"Wenn du willst, dass die Erinnerung nicht verloren geht, lass den Wind treiben durch die Zeilen."

Das ist ihm gelungen. Ein Wind, der aus alten Zeiten zu kommen scheint, treibt die Geschichte voran und knüpft die Gegenwart an die Vergangenheit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Paolo Rumiz: Europa. Ein Gesang

Aus dem Italienischen von Maria E. Brunner

Folio Verlag, TransferBibliothek, 2023, 282 Seiten

(Originalausgabe 2021)