Ugo Riccarelli - Der Zauberer
Dieser Zauberer ist der Vater des
Ich-Erzählers. Er verbringt seine Kindheit nach dem Tod seines Vaters in einem kleinen Dorf am Fuß der Alpen. Dorthin zog er mit seiner Mutter, die ihre Heimat weiter im Süden verließ, um bei den beiden Brüdern ihres verstorbenen Mannes zu leben.
Onkel Tonio und Onkel Attilio nehmen die Mutter weniger aus Mitleid auf, sie sind eher an ihrem kleinen Vermögen interessiert, da sie ein Unternehmen zum florieren bringen wollen. Beide haben nicht das Format des verstorbenen Capomastro, der ein zupackender Mann war, der Häuser bauen konnte und seiner kleinen Familie Sicherheit geben.
Die Großeltern des Zauberers mütterlicherseits sind Adelina und Mondo - eine Abkürzung für Edmondo und auch "die deutliche Ausrufung dessen, was er war und was er enthielt: Mondo - die Welt."
Dieser nicht zu bändigende Mann fuhr zur See, kehrte immer wieder plötzlich nach Hause zurück, überraschend und alles durcheinander wirbelnd wie ein Sturm.
Die Frau, die im Roman immer "die Großmutter" genannt wird, ist die Tochter Adelinas und Mondos, sie ist die Mutter des "Vaters", des Zauberers.
"Verliebt in die Knoten ihres Vaters, übertrug meine Großmutter die magische Fähigkeit auf ihren Sohn, die Geschicke des Lebens in einer Verknüpfung zu bändigen, so dass er mit der Kunst, Ordnung in ein Knäuel zu bringen, zugleich Liebe und Hass verbinden konnte, Verrat und Treue und Stolz und Feigheit und Wahrheit und Schein. So dass er Unbeweglichkeit und Flucht sein konnte. In ihrem Bauch erhielt mein Vater ... die Veranlagung zur Täuschung, die Begabung, jedes Schnürband und jeden Zwang zu binden und zu lösen, das Talent, andere und sich in der Illusion zu wiegen, frei von allen Fesseln zu sein."
Als Junge lernt er in der Werkstatt des Onkels mechanische Erfindungen kennen, er lernt verstehen, wie man etwas zusammenbaut, mag es Verwendung finden oder nicht.
Er lernt, wie man aus Obst und Kräutern Getränke destilliert, er lernt, genau hinzuschauen, egal was gerade produziert wird. Vor allem aber entwickelt er die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und mit ihnen die Menschen zu faszinieren.
Als die jungen Männer des Dorfes in den Krieg nach Afrika ziehen, ist "Vater" derjenige, der sie mit seinen Worten begleitet, führt, tröstet.
Als sie in Gefangenschaft geraten, kann er einige Kameraden durch die Lüge, er sei ein Bäcker, retten. Er wird in die Backstube geschickt, hat zu essen und erfreut alle mit seinen einfallsreichen Gebäcken, mit denen er einen Blick in eine andere Welt herbeizaubert.
Später wird er sich als Monteur und Fahrer bewähren, wieder ist er ein Gefangener, aber einer mit vielen Freiheiten.
Bis er im Haus seines Herrn Monsieur Laplace eine Frau wahrnimmt, deren Blick ihn in einen Zustand versetzt,
den er bisher noch nicht kannte. Er verliebt sich.
Für all die Frauen, die er vorher gehabt hatte, hatte er nicht so empfunden, wie für die hinter einem Schleier verborgene Unbekannte. Er will sie befreien, es gelingt ihm beim zweiten Versuch, beinahe hätte ihn diese Tat jedoch das Leben gekostet. Und in gewisser Weise findet er nie mehr in den freien Zustand zurück, in dem er vor dieser Liebe lebte. Ihren Namen ringt er der Frau noch ab, Aisha heißt sie, das ruft sie ihm zu, bevor sie wegrennt, zurück in die Wüste Marokkos.
Der Zauberer kehrt zurück, zusammen mit vielen anderen geschlagenen Soldaten. Er nimmt sein Leben als Händler, Geschichtenerzähler, Möchtegern und Hallodri wieder auf.
Und er erzählt Jahre später seinem Sohn, der mit einer tödlichen Krankheit im Hospital liegt, seine Geschichte(n).
Ihr Wahrheitsgehalt lässt sich nicht überprüfen, viele Begebenheiten erzählt er mehrfach, jedesmal in einer anderen Variante.
"Aus all den verschiedenen Versionen versuchte ich also, ein Konzentrat zu destillieren, das zumindest den Anschein von Wahrheit hat, die Plausibilität von Begebenheiten, die man, um sie zu verstehen, auf die Linie eines Vorher und eines Nachher bringen muss, eines Wie und eines Warum, die in den Erzählungen meiner Familie jedoch niemals Raum oder ernste Beachtung gefunden haben."
In ständigen Sprüngen vor und zurück bekommt der Leser die Geschichte erzählt. Kein Begriff taucht so oft auf wie "Magie" oder "magisch" - und es ist wirklich zauberhaft, wie der Erzähler die Lebensläufe kleiner Leute in den Zusammenhang großer Zeitgeschichte stellt und sie miteinander vermischt. Der "magische Realismus", der den großen Romancier Garcia Marquez auszeichnet, ist der Boden, auf dem auch die Romane Riccarellis gedeihen.
Familienverbindungen werden über mehrere Generationen entwickelt und miteinander verbunden, jeder Einzelne ist nicht nur Glied einer Kette, er trägt die ganze Kette in sich und erweitert mit seinen Handlungen das Spielfeld der Möglichkeiten.
Der Leser folgt diesen Personen und Ereignissen wie mäandernden Flussläufen, fasziniert vom Reichtum der Sprache Riccarellis und ihrer Feinheit.
Beispielsweise "nahm ein Zug eines Tages die Leben von jungen Burschen mit sich fort, die Uniform trugen." Er hätte auch einfach "eines Tages die jungen Burschen mit fort nehmen" können. Der Erzähler verfügt über die Sprachmagie des Vaters, des Zauberers, seine Fabulierkunst ist unendlich.
Ugo Riccarelli: Der Zauberer
Übersetzt von Karin Krieger
Paul Zsolnay Verlag, 2009 (momentan vergriffen)
Im Taschenbuch: dtv, 2011, 206 Seiten
(Originalausgabe 2006)