Yi Meng Wu - Yaotaos Zeichen

Die Widmung dieses Buches lautet:

"Für meine Familie und Ahnen".

Chinesische Schriftzeichen in grün, rot und gelb zieren das Vorsatzblatt, das in sepia gehalten ist, wie das ganze Buch.

Begleitet werden die Zeichen von Namen französischer Zeitungen,

"Le Journal", "L´Esprit", "République Chinoise".

 

Das Buch spielt in zwei Kulturen: in China und Frankreich, genauer gesagt in Peking und in Lyon.

In diese französische Stadt kommen zwischen 1921 und 1946 473 chinesische Studenten, die dort ein besseres Leben und eine neue Heimat suchen.

Dieses fast vergessene Kapitel der Geschichte wird im "Fonds Chinois" in Lyon lebendig gehalten, dort lagern über 25000 Bücher und persönliche Akten, nicht alles, aber vieles von dem, was die Besucher aus China in Lyon zurückgelassen haben. Sie studierten dort am Institut franco-chinois, um sich auf die Universität vorzubereiten. Viele kehrten später nach China zurück, manche blieben in Frankreich.

 

So auch Yaotao, Urgroßvater der kleinen Lucie, die eines Tages auf dem Dachboden ihrer Großeltern einen alten Lederkoffer findet. Kaum geöffnet, entflattern ihm eine Menge chinesische Schriftzeichen. Sie fliegen herum

"wie ein Schwarm Vögel."

 

"Lucie erinnert sich, dass ihr Opa Francois einmal von seinem Vater erzählt hat, der aus China stammte. 

Vielleicht gehörte der Koffer ihrem Urgroßvater Yaotao?"

 

Eines der Zeichen nähert sich Lucie und spricht zu ihr.

Es stellt sich vor als Shui, das Zeichen für Wasser, und sagt "komm, ich nehme dich mit auf eine Reise in die Vergangenheit."

 

Dieses erste Zeichen erzählt von der Überfahrt Yaotaos über das große Meer. Fünf Wochen dauert die Reise von Shanghai nach Marseille im Jahr 1030, dann geht es weiter mit dem Zug nach Lyon.

Verloren und zugleich neugierig steht der junge Mann am Bahnhof, die Erzählung übernimmt nun das Zeichen Di,

das für Erde steht.

 

Mühsam lernt Yaotao die neue Kultur kennen. Die fremde Kleidung, das fremde Essen, vor allem die fremde Sprache.

Zufällig begegnet er Laurence, einer Schneiderin.

Plötzlich "klingt die französische Sprache wie Musik."

Yaotao hat sich verliebt: in Laurence und ihre Kultur.

"Laurence ist ebenso von seiner fernöstlichen Kultur fasziniert".

 

Das ist einer der wunderbaren Aspekte des Buches:

das Interesse wird als ein Gegenseitiges aufgezeigt.

Es ist nicht alleine Yaotao, der sich die französische Kultur aneignet, für Laurence ist es selbstverständlich, sich nun selber mit der chinesischen anzufreunden.

 

Die beiden gründen eine Familie, Yaotao arbeitet als Arzt.

Als von seiner Familie die Nachricht kommt, seinem Vater gehe es sehr schlecht, ist es für Yaotao und Laurence keine Frage, dass sie zusammen mit ihrem kleinen Sohn

Francois-Hua nach China zurückkehren.

 

Nun ist es Laurence, die sich einfinden muss. Und so am eigenen Leib erfährt, wie es Yaotao erging.

 

Der chinesisch-japanische Krieg verändert das Leben der Familie. Yaotao wird eingezogen, er wird nicht zurück-kehren. Laurence beschließt, zusammen mit Francois-Hua nach Frankreich zurückzugehen.

1940 ist sie wieder in Lyon - ihre Heimat ist von den Nationalsozialisten besetzt. Von einem Krieg in den anderen gekommen, finden Laurence und Francois-Hus Unterschlupf bei den Großeltern auf dem Land.

Jahre vergehen, bis sie wieder in ihrem alten Haus leben können.

Zur großen Freude aller steht im Innenhof ein schöner Ginkgobaum. "Francois-Hua, das ist dein Baum"!

Die Früchte dieses Baumes hatte Yaotao von seinem Vater bekommen, als er zum ersten Mal das Land verließ.

Yaotoa hat die Samen vor der Rückkehr nach Peking für seinen Sohn im Hof des Hauses eingepflanzt.

 

So schließt sich für den jungen Francois-Hua der Kreis.

Alltag, Arbeit und Schule beginnen wieder, Laurence lernt einen Mann kennen, sie bekommen eine Tochter, leben ein normales Familienleben, "die Zeit in China erscheint ihnen wie ein ferner Traum."

 

Francois Enkelin Lucie befördert die vergangene Zeit ans Licht. Nach den Zeichen für Wasser und Erde erzählen "Familie", "Osten", "Westen" und "Leben" ihre Geschichten.

Sehr einfühlsam und eindringlich werden das Leben und die Gewohnheiten in Frankreich wie auch im fernen und fremden China mit seinen traditionellen Wohnhöfen, der Kleidung und dem Essen, den neuen Spielen geschildert,

wie auch die Schrecken des Krieges, die im Osten und Westen die gleichen sind.

 

Yi Meng Wu, die als neunjährige mit ihren Eltern aus Shanghai ins Ruhrgebiet kam, kennt den Wechsel von einer Kultur in eine andere. Sie erzählt eine zeitlose Geschichte von Menschen, die ihre Heimat verlassen, in einer neuen ankommen, sie erzählt, dass Freundschaft, Liebe, Familie und die ewige Hoffnung jenseits aller kulturellen Unterschiede für alle Menschen große Bedeutung haben.

 

Das Buch ist durchweg im Präsens geschrieben. So erfahren alle Situationen volle Präsenz, egal wie lange das Geschehen zurück liegt. Der Leser ist unmittelbar dabei und hört die Menschen sprechen, erlebt sie in ihrer Freude, ihrer Trauer ganz nah.

Die sehr aufwendig gestalteten Collagen sind keine Illustrationen im engen Sinn, sondern eine andere Art, dieselbe Geschichte in Bildern zu erzählen.

Das ganze Buch ließe sich ohne Worte verstehen, so genau bildet die Künstlerin verschiedene Umgebungen, Geschehnisse, Gefühle, und Entwicklungen ab.

 

Aufgrund seiner künstlerischen Gestaltung ragt diese Buch heraus. Inhaltlich ist ganz besonders die Erfahrung der doppelten Emigration - Yaotaos nach Frankreich, Laurences nach China -, sowie das Erleben zweier Kriege, in Ost und im Westen, das, was das zutiefst Menschliche vor Augen führt.

Das Buch ist ein sehr wertvolles Kleinod mit deutlichen Aussagen, unaufdringlich, aber eindringlich vorgetragen.

Es bietet zwei Ebenen, auf der eine doppelte Geschichte erlebt werden kann, das ist etwas ganz Besonderes.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Yi Meng Wu: Yaotaos Zeichen

Kunstanstifter Verlag, 2017, 104 Seiten