Christine Wunnicke - Nagasaki, ca. 1642 - Novelle
Christine Wunnicke entführt nach "Japonica", in eine Zeit, die märchenhaft fern anmutet. Sie lässt nicht nur zwei Kulturen aufeinandertreffen, sondern zwei Welten. In diese fremde Welt schickt sie den jungen Abel van Rheenen, der als "Dolmetsch" auf einem Schiff in den Osten reist. Dort begegnet er der Vergangenheit in Person des Kriegers Seki Keijiro.
Seki Keijiro ist mittlerweile siebenundfünfzig, er ist der "faulste Mensch der Welt" und langweilt sich kolossal.
Denn was macht ein Krieger im Ruhestand?
Vor allem denkt er über die "Rechnung" nach, die er seit "genau einundvierzig Jahren" offen hat.
Mit wem? Aufgrund welches Ereignisses?
Darum, um diese `unerhörte Begebenheit´, um die sich eine Novelle zu drehen hat, entwickelt Christine Wunnicke ihre zauberhafte Geschichte.
Sie basiert auf einem Kriegserlebnis Keijiros. Dieses nahm ihm Yuudai, den besten Freund, den Bruder im Geiste und Geliebten. Er schwor Rache - nun, mit der Ankündigung, ein niederländisches Schiff laufe bald in Nagasaki ein, sieht er die Chance gekommen, diese Rache auszuüben.
Damit würde er auch den Geist Yuudais befreien, der wie ein Gespenst durch das Leben Keijiros geistert.
Kunstvoll eingeflochten ist Yuudai die dritte Hauptperson der Geschichte, eine beobachtende und erzählende.
Keijiro heuert als Inspektor bei einer Handelsgesellschaft an und lernt in dieser Funktion Abel kennen. Ohne lange Umschweife kommt Keijiro auf sein Anliegen zu sprechen:
"Vor zweiundvierzig Jahren ... kam ein Schiff von euch. Es brachte Kanonen. Ich möchte wissen, wer der Besitzer war, wie er heißt, ob er noch lebt ..."
Das Schiff hieß anscheinend "Rifuto". Abel erklärt sich bereit, alles herauszufinden, was Keijiro wissen möchte, "wenn du mich lehrst, so zu stehen wie du."
Er wird noch viel mehr wissen wollen...
Diese Verquickung des Auftrages Keijiros mit der Bitte Abels führt tief in die Vergangenheit. Und es bindet die beiden Männer auf vielfältige Weise aneinander. Keijiro unterrichtet den in seinen Augen völlig Unwissenden, die LeserInnen lernen mit ihm ein Stück japanische Kultur oder präziser Künste kennen. Die des Kampfes, der Liebe, der Verstellung und andere mehr - Christine Wunnicke schreibt mit so viel Liebe zum Detail, atmosphärisch dicht, mit trefflichen Pointen, dass vor dem inneren Auge ein dramatisch-komisches Theaterstück entsteht.
Sie mäandert zwischen den verschiedenen Zeitebenen, zwischen Krieg und Frieden, Ost und West, zwischen den Gedanken und Erlebnissen der Personen, zwischen Erzählung und Dialogen - und immer wieder dreht sich die Geschichte um das richtige Wort für Liebe und Verführung, denn, auch das ist sie, diese Geschichte von der Rache.
Die nun neu aufgelegte Novelle "Nagasaki, ca. 1642" aus dem Jahr 2010 erzählt sehr komprimiert von einigen Männern unterschiedlichen Alters, Frauen kommen nicht vor.
(Außer einer kurz erwähnten Ehefrau Keijiros, die aber keine Rolle spielt).
In den nachfolgenden Romanen stellt die 1966 geborene Schriftstellerin junge Frauen in den Mittelpunkt.
In "Der Fuchs und Dr. Shimamura" wird die Hysterie, in Japan `Fuchsbesessenheit´ genannt, thematisiert.
"Katie" handelt von dem sechzehnjährigen Medium Florence, in dessen Seele Katie, ein Mädchen aus einer fernen Zeit, wohnt.
Beide erzählen auch von den zweifelhaften Erkenntnissen der Naturwissenschaften in ihren Anfängen.
Allen gemein ist eine wunderbar plastische Erzählweise, lebendige Figuren, wendungsreiche Handlung und ein leise ironischer Ton, der unter allem liegt.
Christine Wunnicke entführt die LeserInnen in Gefilde, die im besten Wortsinn `phantastisch´ sind.
Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642, Novelle
Berenberg Verlag, 2020, 112 Seiten
(Originalausgabe 2010)