Christine Wunnicke - Die Dame mit der bemalten Hand
"Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder."
So Carsten Niebuhrs schlichte Fest-stellung, als er zusammen mit Musa
al-Lahuri das Sternbild Kassiopeia betrachtet. Das, was für Niebuhr aus dem Bremischen Kassiopeia ist, ist für den persischen Astrolabienbauer "Die Dame-mit-der-bemalten-Hand", ein Sternbild, das "den halben Himmel" umspannt.
Carsten Niebuhr, 1733-1815, Mathematiker, Kartograf und Forschungsreisender, entstammt einer Bauernfamilie, hat es jedoch an die Universität Göttingen geschafft.
Dort lehrt und forscht zu dieser Zeit auch Professor Johann Michaelis, ein eigenwilliger und auch etwas rüder Mann.
Der Orientalist hat sich vorgenommen, den Wahrheitsgehalt der biblischen Erzählungen zu überprüfen, hat viel für sein Projekt geworben und schließlich das dänische Königshaus überzeugen können. Dieses finanziert die "Arabische Reise", 1761 brechen sechs Forscher auf, 1767 kehrt Carsten Niebuhr als einziger zurück. Alle anderen überlebten die Strapazen der Reise nicht.
Niebuhr überlebt nur mit Glück. Er leidet an Sumpffieber,
die Schübe werfen ihn immer wieder um.
Er erzielte hervorragende Forschungsergebnisse auf verschiedenen Gebieten, u.a. zeichnete er eine Karte des Jemen, die 200 Jahre ihre Gültigkeit behielt. Oder: er kopierte Keilschriften in den Ruinen von Persepolis so genau, dass sie Vorlage für die spätere Entzifferung dieser Schrift waren.
Den Herrn Michaelis interessierte dies alles leider nicht, denn für seine Bibelforschung waren Niebuhrs Erkenntnisse nicht verwertbar.
Soweit die Historie hinter der phantastischen Geschichte, die Christine Wunnicke aus dem Lebensweg des Mathematicus kreiert.
Der Roman setzt ein mit Musa al-Lahuri, der auf Gharapuri, einer westlich vor Indien gelegenen Insel, gestrandet ist. Musa ist auf dem Rückweg von einem Kunden, in Begleitung seines Diener Malik, da bleibt der Wind aus, Musa beschließt, auf Gharapuri auf die Weiterfahrt zu warten.
Unversehens kippt ihm "im gottverlassenen Berg" ein Europäer "besinnungslos vor die Füße". Was bleibt ihm anderes übrig, als sich um diesen Mann, der "bläulich weiß wie entrahmte Milch" ist, zu kümmern?
Eine Nacht verbringen die beiden Männer unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Kultur und Herkunft zusammen.
Musa hält Carsten Niebuhr mit Erzählen am Leben.
Er erzählt von seinem Vater, der Mutter, erklärt "Kurdistan Nibbur", dass er lernen müsse, herauszuhören, wann eine Geschichte wahr ist, und wann erfunden.
Er erfindet sehr schön.
Sie tauschen sich über astronomische Geräte aus, als Niebuhr wieder ansprechbar ist. Musa beobachtet den Europäer, wie er Götter abzeichnet, die eine Höhle auf Gharapuri zieren,
sie ärgern sich gemeinsam über die kreischenden Affen, die überall herumtoben.
Die Fragen Niebuhrs gehen so weit, dass Musa, der lieber einfach nur erzählen möchte, sich darüber genauso ärgert, wie über die verrückten Affen.
Beide, die Fragen und die Geschichten, die Erinnerungen und die gemeinsamen Betrachtungen der Insel und des Himmels, treiben den Roman voran.
Er ist schmal, zeichnet sich durch eine reduzierte Sprache aus - hier ufert nichts aus - schafft es aber auf höchst erstaunliche Art, um nicht zu sagen, spezielle Christine-Wunnicke-Art, zu fabulieren und zu entführen.
Mit ihrer Art zu erzählen, räumt sie ihren LeserInnen einen Platz auf dem fliegenden Teppich der Poesie ein, nimmt sie mit in ein Reich, das ein hochspannendes Gewebe aus Realität und Phantasie ist.
Musa stellt nach langen Gesprächen fest:
"Deine Liebe gilt nicht der Mathematik" - "Doch, gewiss!" ...
"Wem oder was gilt deine Liebe? Was liebtest du, wenn du dürftest?" ... "Den Dingen, sagte Niebuhr. Der Welt, glaube ich, gilt sie. All ihren Dingen. Einem gewissen ... Interesse
an allem. Einer gewissen ... betrachtenden Neugier."
Diese "betrachtende Neugier" ist sicher auch der Autorin,
die in jedem ihrer Bücher auf Reisen geht, eigen.
Sie reist nach Asien, ins Gemüt eines Menschen, in den Himmel. Sie blättert auf, wie vielfältig die Welt und die Dinge sind, wie Carsten Niebuhr es ausdrückt, wie eine Hand ein Ganzes oder ein Teil sein kann, je nachdem, wie man es sieht.
"Wir glotzen nach oben und erfinden große Gestalten und hängen sie in den Himmel. Ich eine Frau und du eine Hand und was weiß ich, was andere sehen. Und dann gibt es Streit. Es ist zum Erbarmen!"
So Niebuhr. Er und Musa führen jedoch vor, wie freundlich und wohlwollend ein Streit ausgetragen werden kann, sogar dann, wenn sprachliche Hürden dazukommen.
Denn die Sache mit Arabisch, Latein, Sanskrit und was hier sonst alles durcheinandergeht, ist ja auch noch da...
Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand
Berenberg Verlag, 2020, 168 Seiten
Die anderen Werke der Autorin kann ich nur wärmstens an Ihr Herz legen:
Christine Wunnicke: Der Fuchs und Dr. Shimamura
Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642