Willi Wottreng - Jenische Reise
""Sie sind heute 77 Jahre jung", hat der Pfleger gesagt. "Falsch", habe ich ihm geantwortet. "Ich bin 888. Es müssen 888 Kerzen sein. ...
Ich bin die jenische Anna und habe schon bald ein Jahrtausend gelebt. So ist das."" Sie wird die Geschichte ihres Volkes erzählen, die Geschichte jenischer Europäer.
"Und die Geschichte Europas."
"Eine große Erzählung" ist auf dem Cover zu lesen, nicht `Roman´. Das Buch knüpft an die mündliche Tradition des Geschichtenerzählens an, an die Weitergabe von Generation zu Generation. Dabei schleichen sich Varianten ein, wichtig ist der Kern, der nie an Wahrheit verliert.
"Erzählungen sind oft wahrer als die Wirklichkeit", so Anna, die unbeugsame Frau, die durch die Zeiten führt.
Willi Wottreng, geboren 1948, ist Journalist, Sachbuchautor, Romancier und seit vielen Jahren "Geschäftsführer der Radgenossenschaft der Landstrasse, der 1975 gegründeten Organisation von Jenischen in der Schweiz."
Er kennt die Geschichte dieses Volkes, das von manchen auch Zigeuner genannt wird, er hat sich mit seinen Mythen auseinandergesetzt, mit den Gesetzen, die den Menschen das Leben erschwerten oder nahmen.
Aus all dem zusammengetragenen Wissen und vielleicht noch viel mehr aus dem mit dem Herzen Erkannten, hat er eine wunderbare Geschichte komponiert, die zu den besten gehört, die ich jemals gelesen habe!
Die "große Erzählung" besteht aus drei Hauptteilen.
Diese sind in jeweils vier bzw. fünf Geschichten aufgeteilt und werden von einem Erzähler, der von außen auf das Geschehen blickt, im Präsens erzählt.
Ihnen vorangestellt und kursiv gedruckt, sind die Berichte Annas selbst, die zusammenfassend und in der Vergangen-heitsform berichtet, was ihr geschah und damit dem Erzähler den Stoff liefert, den er ausbuchstabiert.
Dann gibt es noch einen Auftakt, die LeserInnen lernen Anna, die nun im Heim lebt, kennen. Zwischenrufe zwischen den Hauptteilen und ein Ausklang, ebenfalls gesprochen von Anna, runden die Erzählung ab.
Das kling vielleicht kompliziert, ist es aber nicht.
Die verschiedenen Zeit- und Erzählebenen, die unterschied-lichen Perspektiven verleihen dem Text eine Unendlichkeit, eine Vielfalt und dabei große Dichte, Eindringlichkeit und Nähe zu der uralten Anna, zu dieser Frau, die ein Volk verkörpert. Die (vermutlich) bei Thessaloniki geboren wurde, über Ragusa in den Norden wanderte, in Basel wie in Antwerpen lebte, von Lothringen nach Temeswar ins Banat ging, den Nationalsozialismus überlebte und ihren Lebensabend in der Schweiz beschließt.
Anna, deren Männer stets Namen tragen, die mit einem "A" beginnen, die Müllerin, Händlerin, Baderin, Heilerin und noch viel mehr ist, die regelmäßig ihr Bündel schnüren und mit den Kindern weiterziehen muss, hat einen anderen Begriff von Heimat als die Bürgerlichen: er ist nicht an den Ort der Herkunft gebunden, auf den die Welt sich immer mehr fixiert, für sie ist Heimat die Familie, die Gemeinschaft.
Materieller Besitz ist eher hinderlich, zu oft haben diese Gemeinschaften die Erfahrung gemacht, dass sie jederzeit bereit sein müssen, weiterzuziehen.
Die LeserInnen werden durch die Historie Europas geführt, durch die Geographie des Kontinents, durch Krönungen und Kriege, durch Erlasse und Gesetze, sie erleben Rassismus und Spiritualität, sie sehen die Welt aus einer weiblichen Perspektive. Und aus jener der Armut.
"Ich zeige euch die andere Geschichte Europas. Die reiche Geschichte der Armut. Die vielen Geschichten des jenischen Volkes. Wenn ihr etwas davon behalten wollt, merkt euch den Buchstaben A: Armut, Arbeit, Anerkennung.
Und Anna, das bin ich."
Zwischen Phantasie und Wirklichkeit angesiedelt, ist die Erzählung zweierlei verpflichtet: den Jenischen und der Wahrhaftigkeit. Sie ist ein aus unendlich vielen Perspektiven gezeichnetes Bild, ein kluger, poetischer, im Sinne der Humanitas menschlicher, weiträumiger, großherziger und sprachlich herausragender Text - eine große Lesefreude!
Willi Wottreng: Jenische Reise
Bilgerverlag, 2020, 211 Seiten
Ein Gespräch mit Willi Wottreng über seinen Roman findet sich auf dem Hotlistblog
Und: In einem weiteren Buch beschäftigt sich der Autor mit einer sogenannten `Randfigur´ der Geschichte:
"Ein Irokese am Genfersee. Eine wahre Geschichte" -
auch diese Erzählung verdient alle Aufmerksamkeit