Victoria Wolff - Gast in der Heimat

Claudia, die Ich-Erzählerin, kommt

1903 in der süddeutschen Kleinstadt Heilbronn zur Welt. Sie wächst in stabilen und gutsituierten Verhältnissen auf. Sie studiert, heiratet, etabliert sich.

Sie lebt ein bürgerliches Leben, die Christin mit ihrem jüdischen Ehemann, dem Anwalt Dr. Helmuth Martell.

In dieses wohlgeordnete Glück schlägt die politische Situation, die neue Zeit.

 

 

Victoria Wolff hat die Gabe, wunderbar fließend erzählen zu können. Der streng chronologisch fortschreitende Roman liest sich fast wie ein Tagebuch, so unmittelbar, lebendig und authentisch lässt sie ihre Protagonistin Claudia ihr Leben reflektieren und es in der Ich-Form erzählen.

 

In vier Teile ist der Roman gegliedert, sie beschreiben vier Stufen der Entwicklung. 

Endet der erste Teil mit einer schweren Erkrankung Claudias nach der Geburt des zweiten Kindes und der damit, wie sie sagt, definitiv zu Ende gehenden Jugend, schließt der zweite Teil mit einem Familien-Zwist. Dieser findet im Winter 1932 auf 1933 statt:

"Wie zwei Abgesandte feindlicher Mächte standen wir voreinander und nahmen unsere Gründe bitter ernst. Wir trugen denselben Namen und wußten, daß man 1932 schrieb. Was hätte ich der fremden Macht sagen sollen? Uns halfen keine Worte."

 

Dieser Zwist spiegelt die allgemeine Situation der Zeit.

Unversöhnliche Parteien stehen einander gegenüber.

Die Ideen der großen Politik vergiften persönliche Beziehungen, Freundschaften zerbrechen, Mitglieder einer Familie werden zu Feinden.

 

Auch wenn der Roman auf den Blick der Hauptperson Claudia ausgerichtet ist, schafft Victoria Wolff ein breites Spektrum an Perspektiven durch die Beleuchtung diverser Nebenfiguren.

Beispielsweise die resolute und freiheitsliebende Studien-freundin Ruth, die idealistische Maria, die sich völlig den neuen Machthabern hingibt, eine bessere Welt aufbauen möchte und in aller Form die Freundschaft zur Familie Martell aufkündigt. Oder die Cousine Lisbeth, die plötzlich "Jüdin ist, und das im Hauptberuf".

 

Oder ein zu Unrecht angeklagter Freund des Hauses, dem Unterschlagung nachgesagt wird und den Helmuth vor Gericht verteidigt. Ebenso verteidigt er den Arzt Dr. Röhrich - Gelegenheit für die Autorin, über den Umgang mit unbe-quemen, linken  oder jüdischen Ärzten und Akademikern zu sprechen.

 

Die vielen Mitglieder der großen Familie Martell bilden ein ganzes Panoptikum an Schicksalen, die vor allem im dritten und vierten Teil des Romans geschildert werden. 

 

Victoria Wolff führt auf der persönlichen Ebene aus, wie

sich die unmittelbare Umgebung, die tägliche Lebenswelt, verändern. Wie Menschen, die seit Generationen ansässig sind, sich Natur und Kultur verbunden fühlen, zu Fremden gemacht werden. 

Ein Gespräch Claudias mit ihrem acht Jahre jüngeren Bruder Carl, einem glühenden Nazi, bereitet sie innerlich darauf vor, weggehen zu müssen.

Er gibt seiner Schwester einen nicht uneigennützigen Rat:

 

"Du verstehst mich? Rette dich auch, eh´ es zu spät ist. Zieh rasch die Schlinge von deinem Kopf. Noch ist es Zeit. Du machst einen Fehler wieder gut, den du damals nicht geahnt hast. Und rette deine Kinder, Claudia, sie werden dir einstens danken. Und mich machst du damit groß und mächtig! ...

Überleg dir´s, Claudia, stelle dich nicht außerhalb, es wäre schade um dich; wir leben in einer großen Zeit!"

 

Ihr Fehler? Einen Juden geheiratet zu haben.

Als dann die Kinder in der Schule beleidigt werden, ist es Zeit, das Land zu verlassen. Schon längst ist ihr die Heimat fremd geworden, fühlt sich Claudia nur noch als Gast.

Diesem Schritt ist der letzte Teil gewidmet, in ihm wächst Claudia über sich hinaus. Überwunden ist die Phase der Betäubung, unter der sie zu Beginn all der Veränderungen stand.

 

 

Victoria Wolff teilt viele biographische Details mit ihrer Heldin Claudia. Auch sie kam 1903 in Heilbronn zur Welt, als  Tochter einer jüdischen Fabrikantenfamilie. Nach einem kurzen Studium der Naturwissenschaften wandte sie sich dem Schreiben zu, verfasste Romane, journalistische Arbeiten und vor allem Reisereportagen, die sehr gerne gelesen wurden. Sie war bereits eine anerkannte und erfolg-reiche Autorin, als sie Anfang 1933 mit ihren Kindern in die Schweiz umzog. Diese musste sie sechs Jahre später wieder verlassen, über Frankreich und Portugal konnte sie in die USA ausreisen, wo sie bis 1992 lebte.  Dort arbeitete sie hauptsächlich als Drehbuchautorin für Hollywood.

 

Der Roman "Gast in der Heimat" erschien 1935 im Exilverlag Querido in Amsterdam, nun liegt erstmals (!) die deutsche Buchausgabe vor. Ergänzt durch ein erhellendes Nachwort der Herausgeberin Anke Heimberg, die einen profunden Einblick in das Leben der Schriftstellerin gibt und ihr Werk einzuordnen versteht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Victoria Wolff: Gast in der Heimat

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anke Heimberg

Aviva Verlag, 2021, 336 Seiten

(Originalausgabe 1935)