Kai Wieland - Amerika

Nicht in Amerika spielt der Roman, sondern in Rillingsbach. Dieses fiktive Dorf liegt tief im Schwäbischen Wald, also knapp vierzig Kilometer nord-östlich von Stuttgart. Diese Gegend hat viel Natur zu bieten, die kleinen Orte sterben jedoch vor sich hin, es herrscht "Tristesse", wie Kai Wieland, der aus dieser Gegend stammt, es nennt.

Warum also "Amerika"?

 

Der Erzähler kommt als "Chronist" in dieses Dorf.

Er setzt sich in die einzige Kneipe - Zum Schippen - früher war sie ein Hotel, dann eine Vesperstube, anschließend ein Vereinsheim (der Niedergang steht sinnbildlich für das ganze Dorf), und lässt sich von den übrig gebliebenen Bewohnern des Dorfes, die hier Stammgäste sind, von früher berichten. 

 

An erster Stelle sei die Wirtin genannt: Martha. Sie hat die Wirtschaft von ihrem Vater Gottlob übernommen, kurz war der Traum von einem Ausbruch in die weite Welt gewesen.

Dabei träumte Marth nicht einmal von Amerika, sie hatte literarische Ambitionen, nachdem eine junge Lehrerin diese in ihr geweckt hatte. Aber leider reichte ihr Talent nicht aus und so ergab sie sich in das vorgezeichnete Schicksal  und wurde "Boizerin" (Boiz = schwäbisch für Kneipe).

 

Zwei Brüder hatte sie, doch beide machten nach dem Krieg krumme Geschäfte, vor allem mit den Amerikanern in Heilbronn, führten schließlich eine Art Antiquitätenladen, doch sie pokerten zu hoch und man hat nie erfahren, warum ihr Käfer im Fluss versank - mit beiden Brüdern darin.

 

Einer der Gäste ist Frieder. Er führt das große Wort, hört sich gerne reden, fühlt sich wichtig. Als Sohn des Oberschar-führers Wilhelm Linzner nimmt er sich noch immer das Recht heraus, eine gehobene Position im Ort zu bekleiden.

Nebenbei bemerkt: das Buch spielt in unseren Tagen.

Er ist ein erfolgreicher Landwirt, hat früh seine treu ergebene (ihm und dem Alkohol, anders konnte sie es wohl nicht aushalten) Frau verloren, die beiden Söhne, "Kopfmenschen", hat er aus dem Haus geekelt und geprügelt - heute ist er ein einsamer alter Mann, der von vergangenen, vermeintlich großen Zeiten zehrt.

 

Dann ist noch Alfred zu Gast. Er wohnt in einem Zimmer über der Gaststube, war Estrichleger und träumte sein Leben lang von Amerika. Er war sogar dort, besuchte zusammen mit Erna, seiner Frau, die Gräber diverser großer Männer,

er schaut mit Vergnügen amerikanische Filme und verkörpert im Roman den kleinen Mann.

Ein solcher war schon sein Vater Fritz, der ewig bei Gottlob, dem Schippenwirt, in der Kreide stand, zu durstig war er.

 

Der einzige weibliche Gast ist Hilde. Mittlerweile hat sie die sechzig überschritten, als junge Frau trug sie den Beinamen "wild", die wilde Hilde also. Sie ist die Tochter Erwins, eines sehr jähzornigen Mannes und der Engländerin Elisabeth. 

Warum sie mit ihm nach dem Krieg nach Rillingsbach ging ist allen ein Rätsel - "vielleicht war sie nur eine Art Beute"?

 

Jedenfalls erlebt Erwin die Geburt seiner Tochter nicht mehr. 

Monate zuvor wird er erschossen in seinem Schuppen aufgefunden. Selbstmord? Mord?

Die polizeiliche Untersuchung ist kurz und kommt zu dem Schluss Suizid. Keiner im Dorf glaubt das. 

 

So ist Erwins Tod zu einem Dorfmythos geworden, bei dem es nicht nur darum geht, was passiert ist, sondern um die gesamte Vergangenheit des Dorfes, vor allem im und kurz nach dem Krieg.

 

In zwölf plus zwei Kapiteln (Ankunft und Abschied) wirft der Autor, der als Chronist mit am Tisch sitzt und alles notiert, tiefe Blicke in die einzelnen Schicksale der erzählenden Personen - vier Paare sind es, jeweils die Väter und ihre Kinder - und entwickelt aus ihnen heraus den Zustand der Bundesrepublik von ihren ersten Anfängen bis in die Siebziger hinein.

Schnell wird klar, wie mächtig das Denken und die Werte der Nazis noch sind. Erwin und Wilhelm sind geistig in keinster Weise in der neuen Zeit angekommen, zugespitzt dargestellt wird das Problem in der Person des Lehrers Mangelhardt, der gar nichts begriffen hat und sich in der Demokratie nie zurecht findet.

 

Ältere Leser kenne solche Personen sicher noch persönlich, jüngeren werden die verschiedenen Typen hier von Kai Wieland sehr plastisch, fast theatralisch, vorgeführt.

Er hat gut zugehört und recherchiert, er trifft den Ton dieser Alten genau, das macht das Buch nebst der gelungenen Verschränkung von persönlicher Geschichte und Zeit-geschehen so lesenswert.

 

Nicht nur das braune Gedankengut wird trefflich dargestellt, auch der florierende Schwarzmarkt nach Kriegsende, diverse Aktionen der Amerikaner im Sinne der Demokratisierung oder die Ausbruchsversuche Jugendlicher.

 

Am sympathischsten ist dem Chronisten Alfred, deshalb wohl der Titel des Romans, vielleicht auch, weil Amerika lange für die Neue Zeit stand. Alfred hat ihn jedenfalls "vielleicht am meisten überrascht, und nicht nur ihn."

Ganz am Ende wird nämlich noch ein Geheimnis gelüftet, das Alfred bis dahin gehütet hatte. Jahrzehntelang.

Die Frage, warum er es gerade jetzt preisgibt, drängt sich nicht nur dem Chronisten auf.

"Warum hast du es mir nicht gesagt, Alfred?", will Hilde wissen. "Warum hast du es mir nicht gesagt, nachdem ich zurückgekommen war?"

 

Manchmal muss ein Fremder kommen und Fragen stellen...

 

 

 

 

 

Hier noch der Anfang des Buches als kleine Leseprobe:

 

"Tief im Schwäbischen Wald, fernab der Zivilisation selbst solch bescheidener Metropolen wie Backnang und Murrhardt, liegt ein kleines Dorf, in dem kaum noch einer wohnt. Dabei ist es ein Dorf mit einer einstmals passablen Infrastruktur. Auch heute noch gibt es eine Bushaltestelle, eine Schule und sogar ein Freibad, allerdings erfüllen sie alle nicht mehr ihren ursprünglichen Zweck, wie so vieles an diesem Ort. Das alte Schulgebäude zum Beispiel hat schon lange keine Schüler mehr gesehen, es wird lediglich dann und wann für eine der seltenen Begräbnisfeiern genutzt. Selten nicht deshalb, weil hier alle so lange leben, sondern ganz einfach, weil fast alle schon tot sind. Wahrscheinlich handelt es sich um den Ort mit den meisten Suizidfällen pro eintausend Einwohner in Deutschland, wenngleich hier noch niemals eintausend Menschen zur selben Zeit gelebt haben. Deshalb, oder vielleicht auch, weil hinter dem einen oder anderen Suizid ein Fragezeichen steht, taucht das Dorf in keiner derartigen Statistik auf. Kritische Ausschläge werden eliminiert. Und die Kinder? Kinder werden geboren, aber sie verschwinden, und den Alten wird nicht gesagt, wohin. An einem Tag, der so beginnt wie alle Tage, nämlich mit Nebel und dem Geschrei der Krähen, kommt ein junger Mann, ein Chronist, in dieses Dorf und erzählt den Alten von dem Buch, das er schreiben möchte. Er muss an vielen Fensterläden rütteln, bis er einen findet, der nicht glaubt, er wolle nur etwas verkaufen. ......."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kai Wieland: Amerika

Klett-Cotta, 2018, 240 Seiten