Peter Wawerzinek - Ich-Dylan-Ich
Der walisische Dichter Dylan Thomas, geb. 1914, starb im November 1953 in New York. Ein knappes Jahr später kam Peter Wawerzinek in Rostock zur Welt.
Gemein ist den beiden Dichtern die Nähe und Liebe zum Meer und die zum Alkohol. Dylan starb an den Folgen einer Lungenentzündung, die er aufgrund seines Alkoholismus nicht auskurieren konnte.
Wawerzinek schreibt: "Du hast ihnen den Waliser vorgeführt, du hast sie mutwillig ausgetrickst, sich ihrer Dummheit bedient, dir aber dadurch keinen wirklichen Vorteil verschafft."
Außerdem schreibt er: "So früh zu sterben und deinen größten Fan aus Deutschland nicht kennen gelernt zu haben, ist nicht fair. Solch ein früher Tod, der ein Beisammensein für uns beide vermasselt hat, gehört sich nicht. Dass du dich zu Tode gesoffen hast..."
Wawerzinek trifft auf Dylan Thomas, als er vierzehn ist.
Er lebt als Adoptivkind bei einer Lehrerfamilie an der Ostsee.
Dort werden die Bücher auf dem Dachboden verwahrt.
Doch er begegnet ihm nicht in einem Buch, sondern er hört eine Lesung im Radio. Sofort verfällt er dieser Stimme.
"Du kannst verdammt gut lesen. Du bist ein Genie, Dylan.
Du bist eine Ikone der Vortragskunst. ... Ich habe ...deiner Stimme gelauscht und dich augenblicklich verstanden. ...
Mit dem Herzen. ... Dylan, deine Stimme wurde zu dem,
was mir Mutter und Vater sein hätte können. Deine Stimme tröstete mich über mein elternloses Dasein hinweg. ...
Du sprachst in mir fortan fort. Deine Stimme ging mit mir durch die Welt. Auf allen meinen Wegen redete sie mit mir.
Und ich schlief mit deiner Stimme ein, erwachte durch sie sanft geweckt. Du wurdest zum Singsang in mir."
Wawerzinek lernt nach der Schule Textilzeichner, er studiert zwei Jahre an der Kunsthochschule, bricht ab, tritt als Performance-Künstler und Stegreif-Poet auf, wird Teil der Ostberliner Literatenszene. Daneben hat er viele verschiedene Brot"berufe".
Ganz anders Thomas. Er kommt aus einer Familie, die eifrig
die Bibel studiert, Predigten liest und aufgrund dieser Tradition Prediger und Dichter schätzt. Er lernt mit vier Jahren Gedichte von Shakespeare auswendig, schreibt mit acht erste eigene Gedichte, als er zwanzig ist, erscheint ein Lyrikband von ihm. Es ist sozusagen eine natürliche Entwicklung, dass er Schriftsteller wird.
1933 verlässt Thomas Swansea und zieht nach London.
Erst 1949 kehrt er nach Wales zurück und lässt sich mit seiner Frau Caitlin und den drei gemeinsamen Kindern in dem südwalisischen Fischerdorf Laugharne nieder.
Er schreibt in einer Nische der verfallenen Burg des Dorfes und entzieht sich damit sowohl dem Familienleben als auch seinen familiären Verpflichtungen.
Wawerzinek macht sich mehrmals auf nach Wales.
Begleitet von Freunden (alleine möchte er nicht fahren), besucht er die verschiedenen Orte, an denen Thomas lebte.
Er sucht dort den Geist des großen Dichters, der das Schicksal vieler Dichter teilt: er wird von den eigenen Landsleuten nicht (an)erkannt.
Er betrachtet das kleine Denkmal in Swansea, das den Dichter aufs Meer hinausblickend zeigt.
"Dem Meer verdanken wir unsere schöpferischen Kräfte.
Das Meer und wir und die Dichtung. Wir lieben die Natur."
Wawerzinek sucht nach Parallelen im Leben der beiden Dichter. Sucht nach den Quellen, die beide speisen. Doch er verfügt über genügend Distanz und Bescheidenheit um zu schreiben: "Der Sockel zu deinem Denkmal ist schmal und hat nur für einen Platz, Dylan. ... Da ist kein Platz für einen zweiten Mann an deiner Seite."
Ein "Wir", das die beiden Männer als Dichter anspricht, und ein "Ich", das sich selbst sucht und dabei versucht, sich im bewunderten und geliebten Dichterkönig zu spiegeln, wechseln sich in Wawerzineks Buch ab.
Es ist ein Reisebericht, ein äußerlicher. Landschaft, Ortschaften, Wege, Hotels und Bars werden geschildert.
Doch es ist immer auch der innere Weg gemeint:
Was assoziiert der Reisende mit dieser Landschaft?
Welcher Geist wohnt in diesem Hotel, einem Gebäude,
das auch Dylan Thomas beherbergte?
Welche Gedichte Thomas schweben über dem Wanderer?
Das Buch ist keineswegs eine Schmeichelei oder Lobhudelei.
Wawerzinek will sich nicht anhängen an den Ruhm des Walisers. Er sucht. Sich selbst. Den Boden, auf dem Dichtung ensteht.
Und: er macht Lust, die Gedichte Dylan Thomas zu lesen. Denn wer kennt diese wirklich? Viele kennen den Namen, aber das Werk?
Wawerzinek ist ein sehr schöner Rhythmus gelungen.
Er schreibt in seiner "Danksagung", das sei genau jener,
den er seit seiner Reise nach Wales in sich trägt.
Dieser Sound, das Umkreisen des Dichter-Bruders, die Reflexionen über das Dichten selbst, die Suche nach dem eigenen Ich, das Eintauchen in eine fremde Welt am Rande Europas mit ihrer berührenden Natur - dies alles zusammen macht das schmale Büchlein sehr lesenswert.
Es ist eine ganz andere, sehr aufschlussreiche Art von
Biographie.
Nun noch eine kleine Leseprobe:
"Kurz darauf verschwindet der kleine Sandfleck in den Fluten, wird überspült. Die Vögel breiten ihre Flügel und deine Ideen fliegen mit ihnen auf und davon. Dunkle und weiße Vögel sind es. Sie sitzen in einiger Entfernung von deinem Stuhl. Und man gewöhnt sich an das Bild, meint
bald schon, einzelne Vögel von ihnen gut zu kennen.
Und manchmal gelingt es mir, mich unter die Vögel auf die dreieckige Fläche zu mogeln, gedanklich. Da bewegte sich
in dem Moment nichts vor und nichts zurück.
Da stand alles still, atmete durch. Und ich denke, die Vögel wussten es. Instinktiv. Und sie genossen diese Zeitspanne zwischen Ebbe und Flut. Diese Ruhe, in die hinein ich
dachte, aus dem Bild ein Plakat zu schaffen. Groß, matt.
Das soll von meinem Schreibtisch aus zu sehen sein,
wenn ich über Dylan Thomas nachdenke. Es geht von
dem Blick aufs Meer hinaus eine magische Ruhe aus,
die einen krank und bettlägerig werden lässt."
Der letzte Satz bricht den Blick auf alles Große und erinnert an Ambivalenz und Ironie. Und verhindert die schiere Identifikation mit dem Großen.
Peter Wawerzinek: Ich-Dylan-Ich
Verlag Wortreich, 2015, 160 Seiten