Linda Vilhjálmsdóttir - das kleingedruckte
Zwei Lupen zieren den Umschlag des Buches, ausgeschnittene Kreise, durch die man greifen kann. Das passt fein zum neuen Gedichtband der Isländerin Linda Vilhjálmsdóttir, geb. 1958.
Sie schaut durch Vergrößerungsgläser auf die Welt der Vergangenheit und Gegenwart, der Frauen und Männer,
sie legt den Finger in die Wunde.
Fünf Kapitel hat der Band, jedes ist ein thematischer Zyklus.
Der Auftakt ist eine Arbeit anlässlich des isländischen Nationalfeiertages am 17. Juli. An diesem Tag wird mit einem Gedicht der Bergfrau, Symbol der isländischen Dichtung, gedacht.
Linda Vilhjálmsdóttir fordert darin, die Bergfrauen nicht "auf den sockel zu stellen", sie ruft den Frauen zu, selbst "hinunter auf den platz" zu strömen. Sprach sie zunächst allgemein, kommt sie schnell zu einem "wir": sie wendet sich damit an alle Frauen, die Teil haben wollen am Leben, nicht auf einem Beobachtungsposten schweben und von oben herab auf das Leben blicken. Das ist eine dezidierte Aufforderung als Einstieg in einen Gedichtzyklus, der kundtut: wir sind hier, wir sind lebendig!
Ob feine Damen, zurückhaltende Bürgerinnen oder "die schlampen", es betrifft alle, für jede Einzelne geht es um Aneignung und Deutungshoheit, um Unabhängigkeit und Souveränität.
Ohne Umschweife, ohne sprachliche Verzierungen, glasklar sind die Gedichte Linda Vilhjálmsdóttirs. Das gibt ihnen eine unglaubliche Tiefe, es ist, als würde man mit einer Lupe ins Wasser schauen und das vielfältige Leben dort entdecken.
Im ersten Teil betritt ein in der Poesie lebendes Ich die Bühne. Es spricht eine Vielzahl von Themen an, ein jedes ist existentiell. Schönheit, Vollkommenheit, Scham, Trauer und Kampf, Gebären, Angst, "zerfleddertes" Selbstwertgefühl und andere mehr.
Der zweite Teil ist eine dezidierte Aussprache.
"manchmal fühle ich mich", so beginnt jeder dieser Vierzeiler, gefolgt von einem Begriff, der sofort Assoziationen weckt. Das kann eine "legehenne" sein oder eine "zuchtsau", ein "polnischer leiharbeiter", ein "unnützer alter" oder eine "frau in einem pflegeberuf". Linda Vilhjálmsdóttir nutzt sehr geschickt diese Vergleiche, die mit einem Wort eine ganze Welt bezeichnen und den Gedichten große Wucht verleihen.
Ihre Themen sind Körper, Arbeit und Armut. Außerdem die unterschiedlichen Lebenswelten von Männern und Frauen.
Ein eigener, überaus beeindruckender Gedichtzyklus ist den Vorfahrinnen gewidmet. Er gleicht einem Gespräch über Generationen hinweg, er erzählt von "knechtschaft", Verlust und "nimmerendenden sorgen".
Dies alles jedoch in einer kraftvollen Sprache, die kein
klein beigeben kennt. Die protokolliert, notiert, was im scheinbar Kleingedruckten des Lebens steht.
Auf ganz beeindruckende Weise hinterlegt die Dichterin ihren eher nüchternen Stil mit einem vielschichtigen Bedeutungsgeflecht, das bei jeder Lektüre einen anderen Aspekt aufscheinen lässt. Ihre Gedichte sind plastisch erzählte Geschichten, die Figuren sehr lebendig, die Geschehnisse im wahrsten Sinne des Wortes verdichtet.
Das letzte Gedicht ist ein versöhnliches. Ein Ich, das sich als Glied einer Kette sieht, eine Frau "in den mittleren jahren", die gerne das von ihrer Großmutter Begonnene fortführen möchte, die ihre Sehnsucht nach Zukunft nicht verschweigt.
Wie auch die anderen Gedichtbände aus dem Elif Verlag ist dieses zweisprachig ediert. Ich kann kein Wort Isländisch und auch keines einer anderen nordischen Sprache, doch die Gedichte parallel lesen zu können, sich den Klang der fremden Worte vorzustellen, ist eine wunderbare Sache.
Wieder hat das Übersetzerduo Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer die Gedichte gekonnt ins Deutsche übertragen, mit Verstand und Gefühl hineingetragen in einen adäquaten Rhythmus und in sprechende Bilder.
Hier zwei Zeilen, die ich besonders liebe:
"eins og ég sé pig núna
í mildara ljósi sjálfstraustsins"
"wie ich dich jetzt sehe
im milderen licht des selbstvertrauens"
Das ist Poesie pur. Und eine Lebensaufgabe.
Auch daran erinnern die Gedichte.
Linda Vilhjálmsdóttir: das kleingedruckte
Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason
und Wolfgang Schiffer
Elif Verlag, 2021, 110 Seiten
(Originalausgabe 2018)