Vicente Valero - Übergänge

In seinem zuvor erschienenen Buch  "Die Fremden" verfolgt Valero die Schatten von Verwandten, die früh

die Insel Ibiza - Geburtsort Valeros, auch heute noch lebt er dort - verlassen haben, und doch auf eine bestimmte Art präsent blieben. Im neuen Werk "Übergänge" geht er ähnlich vor:

durch die Verknüpfung von Persönlichem und Zeitgeschichtlichem, im Beschreiten von "Erinnerungslandschaften" ruft er die Vergangenheit ins Gedächtnis, die untrennbar mit der Gegenwart verbunden ist. Nicht als Farbklecks, sondern als Teil des Gesamtbildes.

 

Der Roman "Übergänge" nimmt bei der Beerdigung des Jugendfreundes Ignacio seinen Ausgang.

Der Ich-Erzähler kommt zu spät zur Kirche, steht zuerst ganz hinten, begibt sich dann aber doch weiter vor, um sitzen zu können, aber auch um besser sehen zu können.

Er erkennt den Pfarrer wieder, "damals" hatten sie diesen als Lehrer gehabt. Er erkennt Amelia wieder, die Schwester des Verstorbenen, immer noch so schön wie damals- sofort steigen "weit zurückliegende Bilder aus unserer Jugend in mir" auf. Erinnerungen an den Strand und die Küsse, an die kurze Zeit, in der er mit Amelia zusammen war, er sechzehn, sie fünfzehn. 

 

Über drei Jahrzehnte ist das nun her, plötzlich so präsent wie die Kälte draußen an diesem Februarnachmittag.

 

"Öffnet man einmal das Schleusentor der Erinnerung, bricht sich eine Bilderflut Bahn, in der man nur allzu leicht ertrinken kann, zumal in einer Situation wie der meinen in diesem Augenblick und an diesem Ort, nur wenige Meter von dem toten Körper Ignacios und dem noch lebendigen und wunderschönen Körper seiner Schwester Amelia entfernt."

 

Sie sprechen kurz miteinander, Amelia erkennt ihn wieder, und bittet den Schriftsteller spontan darum, die Geschichte ihres Bruder niederzuschreiben.

Aus dieser Bitte ist der Roman entstanden, der nicht chrono-logisch erzählt, sondern - und dafür bildet die Beerdigung den perfekten Rahmen - die verschiedensten Erinnerungen lebendig werden lässt, in scheinbar ungeordneter Folge.

 

Die fünf Teile des Romans haben jedoch ihre Schwerpunkte, was ihm eine greifbare Struktur gibt, auch wenn der Erzähler übergangslos von einem Satz zum nächsten die Zeit wechselt - und genau damit von den "Übergängen" erzählt.

Er flaniert zwischen dem, was gerade in der Kirche, auf dem Friedhof, in der Bar, in einer zweiten Bar, passiert und Szenen aus der Kindheit, der Jugend - die die vier ehemals unzertrennlichen Freunde in verschiedene Richtungen führte - und kurzen Begegnungen mit Ignacio, vor dessen Tod mit nur dreiunddreißig Jahren.

 

Bei diesen Erinnerungen geht es sowohl um die Kirche (die Jungen besuchen eine katholische Schule), als auch um die Politik. Mit zwölf erleben sie den Tod Francos schon sehr bewusst mit, Gelegenheit, von den beiden Treffen Don Alfonsos, Ignacios Großvater, mit dem Caudillo zu erzählen.

Und sich an den Wahlkampf 1979 zu erinnern, bei dem das Wort "Demokratie" wie ein Fetisch vor sich her getragen wurde, wie auch das Wort "Freiheit" - die jungen Wahlhelfer aber den schon betrunkenen Gästen einer Parteiveran-staltung ausgefüllte Wahlscheine "in verschlossenen Um-schlägen" überreichten.

 

Die großen Ereignisse lassen das Land übergehen von einer Zeit in eine andere, von der langen Ära Francos in die der Demokratie, von einem landwirtschaftlich geprägten Land in die von Touristen überschwemmte Insel (Den Alfonso steht für den Anfang dieser Entwicklung).

Parallel verlaufen die Veränderungen im Leben der Menschen - ich mag sie nicht die "kleinen Ereignisse" nennen - beiden räumt Valero das gleiche Gewicht ein.

In einem sehr schön ruhigen Ton, der von der ersten Seite an den Leser mit hinein nimmt in die konzentriert erzählte Geschichte, umkreist Valero die Ereignisse und bettet sie ein in seine "Erinnerungslandschaft". 

 

 

Vicente Valero, der auch ein Buch über Walter Benjamin auf Ibiza veröffentlicht hat, erinnert in seinem literarischen Vorgehen an diesen Dichter und Philosoph.

Benjamins Bestehen auf dem Individuum, der Wichtigkeit des Einzelnen, der Idee des ganz der Wahrnehmung verpflichteten Flaneurs, der Eindrücke sammelt, die ihn wiederum zum Nach- und Weiterdenken anregen, lässt sich auch in Valeros Romanen erkennen - er ist ein Nachfahre dieses großen Schriftstellers.

 

Man lese langsam und flaniere durch die "Übergänge".

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vicente Valero: Übergänge

Übersetzt von Peter Kultzen

Berenberg Verlag, 2019, 88 Seiten

(Originalausgabe 2016)