Vicente Valero - Die Fremden
In vielen Familien gibt es sie:
die "fremden Verwandten", jene,
die früh weggingen, lange Zeit nicht zurückkehrten und kaum Spuren hinterließen.
Und trotzdem präsent sind in der Familie. Als "Schatten einer Erinnerung, einen Schatten, der, so verwischt er war, doch allezeit wie eine heilige Flamme sein Licht auf unsere Familie zu werfen schien."
Vicente Valero, 1963 auf Ibiza geboren und heute auch lebend, spürt diese Fremden seiner eigenen Familie auf.
Was blieb, sind manchmal ein Buch, manchmal ein paar Fotos, ein paar Briefe oder Postkarten - und eine vage Erinnerung, kaum greifbar und kaum nachvollziehbar,
doch stark genug, den Wunsch zu wecken, diese Menschen aus ihrem Schatten herauszulösen.
Vier Mitglieder seiner Familie porträtiert Valero auf sehr vorsichtige und einfühlsame Weise.
Mari Juan ist der Vater seiner Mutter. Geboren im Jahr 1900 als Sohn eines Bauern im Hinterland Ibizas, wäre es für den jüngeren Sohn üblich gewesen entweder "der Kirche oder dem Militär übergeben" zu werden.
Der Vater Mari Juans hatte jedoch beschlossen, dass sein jüngerer Sohn Anwalt werden soll. Deshalb kam er mit nicht einmal acht Jahren in die Franziskanerschule in Valencia.
Doch der Junge wollte nicht Anwalt werden. Nach Abschluss der Schule ging er zum Militär und wurde Ingenieur.
Er entfernte sich weit von der Familie, diente in Afrika, lernte aber im Urlaub auf seiner Insel Nieves kennen.
Die beiden heirateten. Kaum Vater geworden, erkrankte Mari Juan auf seiner Militärbasis an einer Lungenentzündung.
Er kehrte zurück, wurde jedoch nicht wieder gesund, sondern starb nur zwei Wochen nach der Rückkehr mit achtundzwanzig Jahren.
Der Erzähler reist nach Afrika, sucht Kap Juby auf, die letzte Station des Großvaters. Natürlich finden sich hier keine Spuren, aber der Leser erfährt Erstaunliches über den Bau, die Unterhaltung und das Leben auf einer Außenstelle Spaniens mitten im Nichts. Dieser Ort bekommt etwas Glanz durch die Tatsache, dass auch Saint-Exupéry hier diente.
"Man wünschte sich also, wie auch nicht, unser fremder Verwandter hätte vieles von dem miterlebt, was der abenteuerlustige Pilot in seinen Briefen und jenem Roman berichtet..."
So nähert er sich auf Umwegen dem Fremden an, der ein Fremder bleibt, aber einer, der eine Geschichte hat.
Valero widmet ein Kapitel seiner Spurensuche dem Halbbruder seines Vaters, der völlig unerwartet auftaucht als er fast sechzig, der Erzähler gerade elf ist.
Jener Onkel Alberto ist Profi-Schachspieler und wird zusehends als "waschechter Zauberkünstler" betrachtet,
der in der ganzen Welt herumgereist war und seine Tricks vorgeführt hatte.
Warum kommt er nach Jahrzehnten zurück?
"Der alte Mann, den ich im Sommer 1974 kennenlernte, hatte es zweifellos vor allem auf ein wenig Zuneigung abgesehen - darauf, von uns Zuneigung zu empfangen, wie auch seinerseits uns Zuneigung spüren zu lassen."
Der dritte ist der Bruder der Großmutter mütterlicherseits. Er ist der "ewige Fremde der Familie."
Im Jahr 1919 war er im Alter von sechzehn von der Insel geflohen, mit dreiundsechzig kehrte er zurück.
Er war fasziniert gewesen von einer Tanztruppe und hatte beschlossen, ebenfalls diese Laufbahn einzuschlagen.
Er ging nach Barcelona, fand dort seinen Lehrer, Freund und Geliebten Chinito, tanzte in dessen Truppe, wurde nach Chinitos Tod zusammen mit der Tänzerin Primavera ein Star, der die Welt bereiste, bis er das Tanzen aufgab und sich in Mexiko niederließ. Wo er Jahrzehnte lebte.
Warum kommt er zurück?
"Ich denke an seinen gescheiterten Versuch, als er sein Ende nahe glaubte, die Welt wiederzufinden, die er so viele Jahre zuvor hinter sich gelassen hatte, natürlich in der Hoffnung, dass diese sich in der Zwischenzeit zum Besseren verändert hätte."
Der Bruder der Großmutter väterlicherseits, Major Chico, 1891-1970, ist Pilot bei der spanischen Luftwaffe.
Er mach Yoga, ist Vegetarier, Anhänger der Theosophie,
und steht und kämpft auf Seiten der Republikaner.
Als diese 1939 den Krieg gegen das Franco-Regime verlieren, reiht er sich in die lange Reiher derer ein, die Spanien verlassen und Jahre in einem französischen Flüchtlingslager zubringen. Bis 1945 lebt er in einem solchen, als es aufgelöst wird findet er eine Arbeit als Verwalter in einem kleinen Dorf. Seine Frau Rosario kommt zu ihm, die beiden leben in Frankreich bis zu Ramon Chicos Tod.
Nie wieder hat er spanischen Boden betreten.
Im ersten Teil, der dem Ingenieur Mari Juan gewidmet ist, schwingt die Frage danach mit, wie ein Mensch sich entwickelt, der in früher Kindheit die Familie verlassen muss. Ihm wird alles genommen - der hochmütige und distanzierte Blick, mit dem er später auf die Welt blickt,
der er nicht mehr angehört, ist Teil der Selbsterhaltung.
Der Tänzer Carlos Cervera musste die Insel verlassen, weil
er anders war. Die Inselbewohner erscheinen ihm auch bei seiner Rückkehr noch menschenfeindlich und ignorant - und doch übte die Welt der Kindheit so große Anziehungskraft aus, dass er dort sterben wollte.
Thema der Geschichte Ramon Chicos ist, neben dem persönlichen Schicksal, das Exil. Das alles nimmt und nur noch eine einzige, oft sinnlose Hoffnung zurücklässt.
Vicente Valero bereist "Erinnerungslandschaften" - ein wunderbares Wort, das umschreibt, wie weiträumig die Suche nach einem Menschen sein muss, der die Heimat verlassen hat.
Es genügt nicht, Familienmitglieder zu befragen, oder alte Freunde aufzusuchen. Auch die leben wahrscheinlich weit weg. Wenn nicht einmal Fotos da sind - wie soll man sich diese Fremden vorstellen?
Keinen der vier Lebens-Läufe beschreibt Valero chronologisch. Immer ist es eine kreisende Suche, die Persönliches und Zeitgeschichtliches ineinander webt.
Mit großer poetischer Kraft und bewegendem Vorstellungs-vermögen versucht er, die Fremden aus dem Schatten zu holen. Dabei entsteht kein klassischer Familienroman,
aber doch ein Bild einer Familie, die gelernt hat, mit fremden Verwandten und Unbegreifbarem zusammen zu leben.
Vicente Valero: Die Fremden
Übersetzt von Peter Kultzen
Berenberg Verlag, 2017, 128 Seiten