Cornelia Travnicek - Feenstaub
Die Aufgabe ist klar, aber kriminell. Petru, Magare und Cheta sind drei junge abgerichtete Taschendiebe, die den Betuchten in der gesichtslosen Stadt in blitzschnellen Aktionen ihr Hab und Gut aus den Taschen oder von den Handgelenken streifen müssen. Als ballspielendes Zweiergrüppchen tauchen sie auf, einer lenkt ab, der andere klaut trickreich drauflos.
Dann verschwinden sie mit ihrer Beute, harmlos mit Schultaschen getarnt. Haste nicht gesehen! Wie von einem Nebel verschluckt.
Auf der im Fluss der Stadt gelegenen Insel, wo sie gemeinsam im Schutz eines Baumes hausen, landen ihre Schätze in der Schatzkiste, bis der Krakadzil, ihr Boss mit dem Goldzahn, kommt und den Großteil einsackt.
Böser Krakadzil, Rattenfänger, schickst die Kinder, für die sich niemand interessiert, auf die Straße.
Das nennt man Ausbeutung. Zimperlich ist das Erzählen hier nicht, es ist roh, dunkel, untergründig, bleibt aber auch im Vagen und Unausgesprochenen: Weder von Kriminalität ist die Rede, Drogen oder der Herkunft der Jungen. „Danach wollten sie erfahren, wo zu Hause ist.
Zu Hause, das ist, wo man dich haben will, gebe ich als Antwort.“
So gerade dem Kindesalter entwachsen dürften sie sein,
an der Schwelle zur Adoleszenz, noch strafunmündig.
Wer sollte sie da bestrafen für ihr Handeln?
Nur eben älter dürfen sie nicht werden, größer, klein bleiben sollen sie, sich klein machen. Sonst funktioniert die ganze Sache nicht. Verloren sind sie, bis in ihren verpassten Zunamen Perdut (vom Französischen „perdre“, verlieren) hinein.
„Wie alt ich bin, will jemand wissen. Ich sage, dass ich die Tage nicht gezählt habe, die Woche, die Monate. Die Jahre nicht, weil die Jahre nicht zählen. Das vom Kleinmachen erzähle ich nicht.“
An dieser Stelle haben wir längst Peter-Pan-Land betreten – das traumdurchsponnene, märchenhafte „Niemandsland“
in Feenstaub, dritter und unwiderstehlicher Roman der bekannten österreichischen Schriftstellerin Cornelia Travnicek (geb. 1987). Mit dem „glitzernden“ Gold aus kleinen Plastiksäckchen, das die Gang teuer erstehen muss, wachsen den Jungen regelrecht Flügel für die Diebestour, belohnen sie sich, davon sind sie abhängig. Vielleicht lassen sich damit auch die Schläge des Krakadzil besser ertragen, die Ausweglosigkeit und wird das Inselleben mit seinen Monstern, Drachen, dem süßen Nektar, Lagerfeuer, Musik, Nixen und Walen im Fluss zum Abenteuer.
So jedenfalls schildert es Petru, der als eine Art Anführer der Inselbewohner angesehene Ich-Erzähler. Dabei ist Petru des Schreibens und Lesens gar nicht mächtig.
Sein Erzählen zeigt sich als Kaleidoskop hart geschnittener Szenen, bestehend aus Erlebnissen, Wahrnehmungen, wilden Träumen und Fantasien. Ein unreifer Mensch ohne Ränder, ein Hergelaufener, der nicht gesehen wird von der Erwachsenenwelt, vermag kaum eine kohärente Geschichte zu erzählen. Die kurzen, nur wenige Zeilen langen Szenen,
die kaum mal mehr als eine Seite füllen, wirken selbst wie Inseln auf dem Papier.
In einem Märchen gibt es Gut und Böse, scharfkantig getrennt.
Das Böse ist identifiziert, wo ist das Gute im Roman?
Das Anliegen der Autorin ist es wohl vielmehr, beide Sphären zu verschmelzen. Äußerst kunstvoll tut sie das.
Im herrschenden Nebel, der Schattenwelt, die das Leben auf der Insel umfängt, schimmern immer wieder zarte Gefühle hindurch, Akte der Zuwendung. Als ferne Erinnerung klingen eine Großmutter oder eine Mutter an, die ihren Sohn vermisst. Ein Zufall will es, dass Petru bei einem Stadttrip der jungen Schülerin Marja in die Arme läuft und zugleich den sachten Beginn eines neuen Lebens in einer handymobilen Gegenwart erfährt, in der eine ihm bis dahin unbekannte Sprache der Fürsorge und der Bildung gesprochen wird. Allmählich verabschiedet er sich auch vom Feenstaub.
Die Leserin bleibt glücklich benebelt bis zum Schluss und empfiehlt den Roman auch als anspruchsvolle Lektüre übers schmerzhafte Erwachsenwerden für junge Menschen.
Cornelia Travnicek: Feenstaub
Picus Verlag, 2020, 278 Seiten
Diese Besprechung stammt aus der Feder von
Senta Wagner