Thien Tran - Gedichte

Ein "ich" in der Welt - welcher Welt?

Manchmal ausgeweitet zu einem "wir", oder un/überpersönlich "man", "jemand". Realistisch-verdreht, am Tatsächlichen haftend, an Filmen, Musik, einer Person ("Der Künstler"), auch diese stellvertretend für etwas über diese einzelne Person Hinaus-gehendes - eine Idee bedenkend.

Der Versuch der Verortung in einer konkreten Zeit, Namen von Monaten in den Titeln der Gedichte oder auch Bezeichnungen wie "Testament", "Demokratie" oder "Einschreiben". Universitärer Sprachgebrauch, gebrochen in der Reflexion des Dichters, der die Wurzeln sucht.

 

Mehr als einhundert Gedichte des 1979 in Vietnam geborenen und 2010 in Paris gestorbenen Poeten versammelt dieser Band, der den schlichten Titel "Gedichte" trägt.

Versehen mit einem Vorwort des Herausgebers Ron Winkler, der auch den Nachruf sowie die editorische Notiz verfasst hat, sind hier alle Texte, die in vielen verschiedenen Magazinen, Büchern, Zeitschriften erschienen sind, zu lesen. 

 

Es ist nicht einfach, eine Art Überschrift für dieses Werk zu finden. Es ist keine Naturlyrik, keine Konkrete Poesie, die Formen der Gedichte sind offen, manchmal in zwei Schrift-arten gedruckt, die kursiven Teile können als separater Text gelesen werden, der wie ein Einschub zwischen dem Haupt-text liegt - man kann den Einschub aber auch mitlesen und hat so ein kristallines Gebilde vor sich, das je nach Licht-einfall funkelt. Es ist keine Liebeslyrik im herkömmlichen Sinne - Thien Trans Gedichte folgen einer eigenen Logik, inhaltlich lassen sie sich am ehesten unter den Begriff "Existenzerforschung" fassen - sofern das Bedürfnis da ist, sie irgendwie zu fassen. 

 

Mir erleichtert dies den Zugang, denn die Felder, auf denen Thien Tran sich tummelt, sind so vielfältig. 

Philosophischen Überlegungen, beispielsweise in dem Gedicht "IN SACHEN HUMANISMUS", stehen konkrete sinnliche Erfahrungen gegenüber (dankenswerter Weise wirklich ganz konkret auf der anderen Seite des aufgeschla-genen Buches), gefasst in dem Gedicht "UNDERSTANDING MUSIC: IM HÖR-VERSTEHEN", hier geht es um die Frage: "Was sehe ich?" 

 

Als "Balanceakt" bezeichnet der Dichter unsere Existenz, als "Übergangszone

von den roten zu den blauen Bereichen

der Infrarotkamera."

Auf die Frage: Was sehe ich? antwortet er:

"ich sehe mich selbst, als Mensch. als Gegenwart

zuhause angekommen landeten die Bilder sanft

ich oder das, was von mir noch

erhalten war."

 

Ein Zustand, eine Art messbarer Ort, ein technisches Gerät.

Ein "ich", ein Lebewesen in einer Zeit, der Gegenwart, am vertrautesten Ort des Menschen, dem  Zuhause, Bilder, also visuelle Ideen, und dann der Abbruch, der Verlust.

 

Das Nebeneinanderlesen dieser beiden Gedichte, von denen jedes einzelne interessant genug ist (alleine wie Hören und Sehen verquickt wird), ermöglicht einen weiteren Einblick in die poetische Welt Thien Trans, und kann stellvertretend für die Lektüre der Gedichte sein.

Das Changieren, Sagen und Verbergen - der Dichter legt ein Netz aus unter den Worten.

 

Von diversen Gedichten gibt es mehrere Varianten, auch sie geben Einblick in die selbst auferlegte Pflicht zur Genauig-keit, denn es ist ein Unterschied, wo eine neue Zeile begonnen, oder ob ein Wort kursiv gesetzt wird.

 

Das Gedicht, das es mir besonders angetan hat, das für mich sehr viel von dem in sich trägt, was Thien Tran in seinen Gedichten ausfächert, auch die Art, wie er dies tut, möchte ich in voller Länge zitieren:

 

GEGEN DEN TOD II

 

man nehme zwei Unendlichkeiten

oder mehr

 

und warte ab

 

wenn wir von Normalität sprechen

meinen wir in der Regel etwas

das über unserer menschliches Fassungs-

vermögen weit hinausgeht 

 

und normal, das ist in unserm Fall

das Universum

 

ein leeres Blatt Papier, unbeschrieben

 

die hundertprozentige Wahrscheinlichkeit

mit der Zeit wird es vergilben

 

brüchig werden

und eingehen

 

ins nächste Nichts des Nichts (?)

der Gesetze der Natur

 

was immer das auch heißen mag

egal, wie wir uns dieses Nichts vorstellen

 

das Delirium beginnt genau hier

an dieser Stelle:

Problem des Zufalls, der Normalität

der Unendlichkeit, der Wahrscheinlichkeiten

und Unwahrscheinlichkeiten

 

genau hier, genau an dieser Stelle, genau hier

an diesem Punkt

 

fange ich an zu phantasieren.

 

 

 

Und nicht nur der Dichter fängt an zu phantasieren...

Der Rhythmus trägt die Gedichte, immer fliegen die Gedanken über die Zeilen hinaus in die nächste, am Ende eines Gedichts steht aber stets ein Punkt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thien Tran: Gedichte

Elif Verlag, 2019, 140 Seiten