Antanas Skema - Das weisse Leintuch
Antanas Skema wird 1910 im damals zum Russischen Reich gehörenden Lodz geboren. Dorthin war sein Vater, ein litauischer Lehrer, versetzt worden. Im Jahr 1921 kehrt die Familie nach Litauen zurück - das Land ist seit 1918 unabhängig. Von Mitte 40-Mitte 41 steht Litauen jedoch unter sowjetischer, danach bis 1945 unter deutscher Besatzung. Antanas Skema beginnt im Jahr 1929 sein Studium (Medizin, später Jura) in Kaunas, ab Mitte der 30er Jahre widmet er sich verstärkt dem Theater, als Schauspieler und Regisseur.
1944 flieht er nach Deutschland, lebt dort in einem Displaced Persons Camp. 1949 geht er in die USA und lässt sich in
New York nieder. Hier engagiert er sich in Exilkreisen am Theater, schreibt für Zeitungen und veröffentlicht Novellen und Gedichte. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Fabrikarbeiter und als Liftboy.
Mit nur fünfzig Jahren stirbt er 1961 bei einem Autounfall.
Der vorliegende Roman entstand zwischen 1952 und 54,
die Originalausgabe erschien 1958. Nun liegt der Roman
einer der wichtigsten litauischen Schriftsteller erstmals auf Deutsch vor, in einer sehr gelungenen Übersetzung.
All die Jahreszahlen und biografischen Details sind zum Verständnis des Buches notwendig. Und da wahrscheinlich die wenigsten Leser mit der Litauischen Geschichte vertraut sind, enthält das Buch auch einen recht ausführlichen Anhang, der hilft, sich in dem Puzzle aus Autobiografie, Geschichte, Märchenschatz und Liedern, Erinnerungen und Träumen zurecht zu finden.
Der Protagonist des Buches ist Antanas Garsva.
Er ist so alt wie der Autor, er kommt aus Litauen, ist Schriftsteller, arbeitet als Liftboy in einem großen Hotel in New York. Er ist vor den Sowjets geflohen, lebte in Bayern in einem DP Camp, hadert mit der offiziellen litauischen Kultur und auch der amerikanischen (Konsum)Gesellschaft.
Er hat eine nicht näher definierte Krankheit, klar ist nur,
dass er Neurastheniker ist, also an nervlicher Erschöpfung leidet. Er liebt Elena, die aus Vilnius kommt und diese Stadt sehr vermisst und die mit einem Ingenieur verheiratet ist.
Es gibt also mehr als eine Parallele zwischen Autor und Protagonist, Garsva ist das Alter Ego Skemas.
Auf die "Einführung" folgen 15 Kapitel, das letzte ist mit "Ende" überschrieben. Von diesen nummerierten Kapiteln tragen 6 die Überschrift "Aus den Aufzeichnungen von Antanas Garsva".
Diese Teile beschäftigen sich mit dem Vater, den Frauen und der Liebe, der frühen Kindheit, der Mutter, dem jungen Antanas und schließlich seinem Aufenthalt im Camp.
Nach einem kleinen Absatz ist diesen Aufzeichnungen immer eine Hotelszene angehängt: Was dort alles stattfindet, Gespräche mit Kollegen im Umkleideraum oder der Kantine. Im vorletzten Teil begegnet Antanas im Aufzug einem ominösen braunen Mann, der alles aus seinem Leben zu wissen scheint - womöglich ist er der Tod?
Nur den letzten Aufzeichnungen folgt eine allgemeine Reflexion über Leben und Liebe, Philosophie und Religion.
Die Aufzeichnung sind in der 1. Person verfasst, hier spricht ein "Ich". Es berichtet von der Zeit in Litauen mit den Eltern und dem "Warten" auf sie, das als eine Form zu Existieren erscheint. Es erinnert sich an die erste Liebe, deren Verlust mit neunzehn Jahren zum Verlust der eigenen Jugend wurde. Die Schizophrenie der Mutter erlebt der Junge als die Zerstörung eines Menschen und der erwachsene Antanas ist nicht frei von der Angst, diese Krankheit geerbt zu haben.
Er denkt an Kaunas und die Freiheitsallee, an seine dichterischen Versuche und schließlich an die Zeit im Camp und die Auseinandersetzung mit dem systemkonformen Dichter Vaidilionis.
Die anderen Kapitel unterscheiden sich inhaltlich wenig von den Aufzeichnungen, außer dass Elena in ihnen einen wichtigen Platz einnimmt. Es gibt aber auch lange Passagen, die an Begebnisse in der Vergangenheit erinnern, die Okkupation thematisiert wird, der Vater eine Rolle spielt, Literatur und Märchen einfließen.
In ihnen wechselt jedoch die Perspektive zwischen einem "Ich" und einem Erzähler, der von Garsva berichtet.
Dadurch erscheint das Buch insgesamt wie ein Zwiegespräch zwischen dem Dichter und seinem Helden, d.h. seinem
Alter Ego. Der Dichter begibt sich auf die Suche nach der Vergangenheit.
Er denkt zurück, versucht zu verstehen, was war.
Und damit seinem Tun einen Sinn zu geben?
Immer wieder unternimmt er Versuche, das Erlebte in poetischer Form zu reflektieren, in Verse zu fassen.
Oft bringt er "nur" einen Essay zustande - doch dieser
Roman selbst ist die poetische Gestaltung der Suche.
Der Held blickt ebenfalls zurück, aber er sehnt sich stark nach einer Zukunft.
"Ich habe mich verstanden. Die Bruchstücke fügen sich zusammen. Das Kind betrachtet die Landschaft. Weg, Flüsschen, Berge, Reh. Eine Schlange, an den Boden geschmiegt. Laumen, Zöpfe flechtend. Kriechende Nebel.
Er trübt sich, der Tag, der helle, er trübt sich. Kiebitzflügel, Glockenschläge, dominus vobiscum.
Antanas Garsva zündet sich die x-te Zigarette an. Er spürt einen Schmerz an der Schädeldecke. "Ich habe zu viel geraucht", denkt er. Garsva drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. Unschlüssig dreht er den Federhalter.
Der Schmerz ist nicht aufdringlich. Er wird verschwinden.
So wie die düstere Vergangenheit. Um zwei ist der Termin bei Doktor Ignas. Morgen Elena. Und übermorgen? Ich werde um Urlaub bitten, übermorgen. Und, kann sein, das Hotel wechseln. Alles wird sich erneuern. Die Liebe und die Poesie und die Menschen und die Straßen.
Nicht mehr nötig: Mein Aufzug, höre mich. Meine Kindheit, höre mich. Mein Tod, höre mich, credo gloria it confiteor gloria. Nicht mehr nötig: Meine Sünde, mein Unverstand, höre mich. Er trübt sich, der Tag, der klare, er trübt sich.
Der Chor der Kaukas, Zemepatis, Lauksargis. Lioj.
Ich werde es schaffen. Ich verspreche es. Ich schenke ihn dir. Den Ring mit dem Karneol. Den Waggon auf dem Platz in Queens. Und meine Liebe."
Monolog, Dialog, Anrufung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, Hoffnung und Versprechen, ein "Ich" und ein "Er": das Zitat zeigt, wie Skema seine Gedanken und Worte ineinander webt.
Es gibt natürlich auch Passagen, die wesentlich nüchterner sind und beschreibend den Blick nach außen richten.
Und die von der Verantwortung des Schriftstellers für die Welt sprechen, von Anpassung und Widerstand.
Viele Puzzleteile wollen zusammengefügt werden, das Buch geht der litauischen Geschichte genauso nach wie den existenziellen Fragen des Menschen. Die Orte wechseln
so oft wie die Perspektiven, manchmal ist nicht zu entscheiden, ob es sich um eine Erinnerung oder einen Traum handelt. Für den Dichter sind sie gleichwertige Facetten eines Gesamtbildes, vom Leser fordert dieser Stil volle Konzentration - dafür wird er jedoch mit einem außergewöhnlichen Leseerlebnis belohnt.
Das weiße Leintuch ist übrigens immer eines, das die Seele einhüllt - um sie vor den Wirbeln an Gedanken und Eindrücken zu schützen?
Antanas Skema: Das weisse Leintuch
Übersetzt von Claudia Sinnig
Guggolz Verlag, 2017, 255 Seiten
(Originalausgabe 1958)