Frans Eemil Sillanpää - Jung entschlafen

Aus zwei Teilen, "Vater" und "Tochter", sowie einer Art Vorbemerkung von

drei Seiten besteht dieser Roman.

Er erschien 1931, Sillanpää (1888-1964) erhielt im Jahr 1939 als einziger finnischer Schriftsteller jemals den Nobelpreis. Unter anderem also auch für dieses Werk, in dessen Mittelpunkt das Mädchen Silja und ihr Vater Kustaa Salmelus stehen.

 

"Silja, das junge schöne Landmädchen, verstarb ungefähr eine Woche nach Johannis, als der Sommer noch jung war.

In Anbetracht ihrer Stellung bekam sie einen vergleichsweise angemessenen Tod. Obwohl sie eine vater- und mutterlose Dienstmagd war, die auch keine Hilfe von sonstigen Verwandten erwarten durfte, und obwohl sie einige Zeit von anderen gepflegt werden musste, war sie immerhin nicht auch noch auf Armenhilfe angewiesen."

 

So beginnt das Vorkapitel, das den Leser also gleich auf Siljas frühen Tod vorbereitet. Dass sie mit zweiundzwanzig Jahren schon längere Zeit Waise und "die Letzte ihrer Familie" war, erfährt man hier ebenso.

Dieser Blick auf das Ende, der die Frage "Was ist passiert" sogleich beantwortet, gibt dem Leser eine große Freiheit.

Nämlich die, sich ganz auf den Stil dieses unvergleichlich stimmungsvollen Epos einzulassen. 

Sillanpää beschreibt die Natur - die sichtbare äußere und die von ihm sichtbar gemachte innere - so präzise, fein und warmherzig, er zeichnet von allem und allen so lichte Bilder, dass der Leser sofort Zugang zu und Sympathie für diese vergangene Welt findet und empfindet.

 

Im ersten, dem Vater Kustaa Salmelus gewidmeten Teil,

lernt der Leser die Familie kennen, der Kustaa entstammt.

Er ist das einzige Kind angesehener Leute auf einem alten Hof, der dem Jungen als "etwas ewig Beständiges und von dem Menschen Unabhängiges" erschien. Nach dem Tod der Mutter und wenig später dem des Vaters übernimmt Kustaa den Hof. Er verliebt sich in das junge Küchenmädchen Hilma, bald heiraten sie und bekommen Kinder. Die beiden älteren sterben ganz kurz nacheinander im Kindesalter, die jüngste Tochter, Silja, ist von Anfang an ein ganz anderer Mensch als die beiden Geschwister. Es umfängt sie ein Strahlen, das alle erfreut, und recht tatkräftig schreitet sie ins Leben.

 

Zurück zu Kustaa, der "mit einem Lächeln in seinen Augen ... auf sämtlichen Pfaden seines Lebens" wandelt und zu Hilma, die aus einem Kätnerhaus stammt. Ungute Leute sind ihre Eltern, ein frecher und unverschämter Flegel ihr Bruder.

Hilma ist froh, dieser Kate zu entkommen, die Hochzeit ist für sie ein "triumphaler Aufstieg." Sie gibt sich Mühe, eine gute Hofherrin zu sein, am Anfang. Doch im Lauf der Zeit schleicht sich ein Schlendrian ein, den es früher auf dem Hof nicht gegeben hatte. Der gutmütige Kustaa spürt die Last und die Verantwortung für Hof und Familie, vor allem aber fühlt er sich sehr einsam. "War er ganz allein inmitten von alledem? Und seit wann? Vielleicht seit jenem Abend in der Plihtari-Backstube, als Hilma ihm nichts zu sagen wusste..?"

 

Bald wird er nicht mehr Geld verleihen, wie sein Vater, sondern selbst Schulden machen und zuletzt den Hof verkaufen müssen. Diesem langsamen Niedergang liegt nicht ein spezielles Ereignis oder Fehler zugrunde, es ist eine Entwicklung, die sich aus Begebenheiten der Zeit, aus den Charakteren der Personen und den Verbindungen der Menschen untereinander zusammensetzt.

Das gemeinsame Jahrzehnt auf dem Salmelushof (es ist die Zeit um 1890-1900) nimmt ein Ende, die Familie zieht auf einen kleineren Hof weiter im Süden Finnlands.

"Wieder fühlte sich Kustaa vollkommen allein." Er musste die Entscheidung des Verkaufs treffen. Doch zugleich "fühlte er sich heute so frei wie schon lange nicht mehr", als er unter-wegs zum neuen Haus ist. 

 

Nicht lange, dann stirbt Hilma. Kustaa und Silja bleiben alleine zurück, Kustaa wird nicht mehr heiraten. 

Die beiden führen ein sehr ruhiges, von alltäglichen Ver-richtungen geprägtes Leben. Die Jahreszeiten bestimmen, was zu tun ist, Kustaa kümmert sich selbst um das Kind, er will niemand Fremdes im Haus haben. Mehr als einmal rettet er ihr das Leben, was die Verbindung noch vertieft.

 

Mit sechzehn wird Silja konfirmiert - ihren Vater empfindet Silja nun als "alten Mann". Alt ist er geworden und einsam. Einsam war er im Grunde schon immer, aber nun spürt sie seine Einsamkeit. Er stirbt wenige Stunden, nachdem sie am Abend in die Stadt zurückgegangen war, in dem der Konfir-mandenunterricht stattfindet.

"Kustaa wurde dann an demselben Sonntag beerdigt, an dem Silja konfirmiert wurde, aber keines von diesen beiden Ereignissen blieb Silja nachhaltig im Gedächtnis."

 

Die letzte Aussage des Zitats mag verwirren, schließlich verliert sie mit dem Vater ihren einzigen Vertrauten und ist nun vollkommen alleine auf der Welt. Sie muss ihre erste Arbeit außerhalb des Hauses und außerhalb der Familie als Dienstmädchen antreten.

Doch obwohl Silja mit ihrem Vater sehr verbunden war,

ist auch sie eine zutiefst einsame Seele.

 

Der Roman trägt den Untertitel "Eines Stammbaumes letzter Trieb", doch er könnte auch den Titel "Einsamkeit" tragen. Denn der Autor verweist durchgängig immer wieder darauf, wie alleine seine Figuren sind.

Sie sind innig mit der Natur verbunden, sie sind einander zugetan, Silja erfährt im Lauf ihres kurzen Lebens Hilfe und echte Sympathie - und doch gleitet sie auf einer Bahn durchs Leben, die keine Spuren zu hinterlassen scheint.

Sie bleibt keine blasse Person, Sillanpää stattet sie mit den besten Eigenschaften aus, wirft genaue Blicke in ihr Herz und doch bleibt sie ein Gast, der nirgendwo andockt.  

 

Vielleicht hätte ihre große Liebe, der sie in ihrem letzten Sommer begegnet, ihre Einsamkeit besiegt. Sie verliebt sich in den jungen Armas, der die Sommerferien auf dem Land verbringt und ihre Liebe erwidert. Silja wagt es, von einem Leben jenseits der engen Welt einer Dienstmagd zu träumen.

Doch Armas reist Hals über Kopf ab, der Krieg, der auch in Finnland 1917 wüst tobt, verhindert eine Rückkehr. 

 

In die Wirren dieses Krieges gerät auch Silja. Sie gerät zwischen die Fronten, handelt weiterhin nach menschlichen Maßstäben, doch die verlieren im Krieg ihre Gültigkeit.

Ohne äußere Blessuren übersteht sie  jedoch diese Zeit, die unglaublich viele Opfer fordert.

 

Noch einmal kehrt sie für einen Tag an den Ort zurück, an dem sie das kurze Glück mit Armas erlebte. Die Erinner-ungen und das Erleben bringen ihre Seele zum Erbeben.

Die Gefühle stürmen mit einer Macht auf sie ein, die sie vollkommen erschüttert.

Längst geschwächt von der Krankheit schafft sie es mit letzter Kraft zurück zum Kierikkahof, wo sie wenig später stirbt. 

 

"Ihr Geist feierte in edler Einsamkeit seine größten Feste in der immer dünner werdenden Hülle des Körpers....

Und auf dem Gesicht lag ein nie vergehendes Lächeln; wenn schon an nichts anderem, so konnte jeder daran erkennen, wessen Tochter sie war...."

 

Den letzten Trost spenden ihr die Vögel, das Licht und das "Himmelsgewölbe." In einem letzten Traum vereinigt sie sich mit ihrem Freund:

"Jetzt also sterbe ich und kann nie mehr das Ziel meiner Träume erreichen. Im Gegenteil fühlte ihr erlöschender Geist, wie er sich schließlich vollkommen mit dem Geist des Freundes vereinigte. Es war ein schöner männlicher Geist, und so sehr war Siljas Verstand im letzten Moment verwirrt, dass sie letztlich nicht wusste, ob es tatsächlich der Geist dieses Freundes war, in den ihr eigener Geist sich so hinein-kauerte, oder ob es der ihres Vaters war - in bester männlicher Haltung -, der sie, so wie sie war, in seine Arme nahm, sie festhielt und zugleich in die Ferne schaute, in seinem Blick stolzer Triumph. Es war jedenfalls gut..."

 

Silja ist in allem unverkennbar die Tochter ihres Vaters.

Die Mutter hat keine Spuren in ihr hinterlassen, nicht nur aufgrund ihres frühen Todes.

Von ihm hat sie das Lächeln und die Einsamkeit geerbt.

Beide sehen sich als Teil einer Kette des Lebens.

Beiden ist ein unbewusstes Wissen um das Werden und Vergehen in der Natur und im Leben der Menschen eigen. Dies bewahrt sie davor, mit dem Schicksal zu hadern. 

 

 

Die von mir gewählten Zitate beziehen sich alle auf die Personen. Der Roman verfügt jedoch auch über sehr schöne Beschreibungen der Natur oder auch Schilderungen von Ereignissen, wie zum Beispiel dem Kirchgang. Dieser schildert über fünf Seiten hinweg sehr stimmungsvoll und den Geist des ländlichen Lebens einfangend, wie die Menschen zu Hause aufbrechen, sich der Kirche nähern, ankommen und sich an der kühleren Luft im Innern der Kirche erfreuen, den ersten Orgelklängen lauschen, die Gemüter sich während des Gottesdienstes erheben bis zum Ausklang des Tages, an dem wieder alltägliche Arbeiten stehen.

 

Sillanpääs Weise, seinen Blick direkt ins Innere der Menschen zu richten, um ihn anschließend auf die Weite der Szenerie zu werfen, ist einzigartig. Er schafft so eine Ver-flechtung und Schichtung von Innen und Außen, die auf faszinierende Art die ganze Lebens-Welt darstellt.

 

 

Reetta Karjalainen führt mit ihrer Neuübersetzung die Erzählkunst Sillanpääs trefflich vor Augen.

Ihre Übersetzung liest sich flüssig, die Innigkeit Sillanpääs gleitet an keiner Stelle in Kitsch ab.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frans Eemil Sillanpää: Jung entschlafen

Übersetzt von Reetta Karjalainen

Guggolz Verlag, 2017, 409 Seiten