Lynne Sharon Schwartz - Alles bleibt in der Familie
"Mein Vater ist in die Lehrerin meiner Schwester verliebt, meine Ex-Stiefmutter in meine Tante, du in den Hausmeister und Grandma in den Portier, also warum zu Teufel kann ich nicht in die Frau meines Bruders verliebt sein?" So Danny, der Sohn Beas, zu seiner Mutter, kurz nach der Geburt dreier Babys von zwei Vätern in einer Familie. Willkommen in New York.
Genauer gesagt in einem Appartement-Haus am Rande des Central Park mit fantastischer Aussicht auf denselben.
Das Haus hat zwölf Stockwerke, im obersten lebt die Großmutter des Clans, Anna. Sie ist um die achtzig und fängt an, vergesslich zu werden.
Sie hält ihre Töchter Bea und May schwer auf Trab mit übergelaufenen Badewannen, brennenden Bratpfannen, unverblümten Aussagen, der Suche nach einem verlorenen Hausfreund, skurrilen Wünschen (wie dem in einer Talk-Show zum Thema One-Night-Stands aufzutreten), und sie wäre gerne diejenige, die die Familie und das Haus regiert.
Das ist sie mit Sicherheit nicht mehr.
Denn ihre Tochter Bea, zu Beginn des Romans knappe fünfzig, hat längst alle Fäden in der Hand. Für sie kommt zuerst die Familie, als zweites die Familie und als drittes die Familie. Was in keinster Weise heißt, dass sie ein Hausmütterchen ist. Im Gegenteil: sie ist eine selbstbewusste und selbständige Frau. Sie betreibt einen erfolgreichen Catering-Service, den sie aufgebaut hat, als die beiden leiblichen Kinder schon auf der Welt waren.
Vater dieser beiden, Danny und Sara, ist Roy, ein Psychoanalytiker. Zwei weitere Kinder von Roy hat Bea aus Vietnam, wo Roy gekämpft hat, nach New York geholt.
Als sie erfahren hatte, dass diese Zwillinge existieren und ihre Mutter im Sterben liegt, zögerte sie keinen Moment daran, sie in ihre Familie aufzunehmen. Tony und Jane gehören selbstverständlich dazu.
Neben des Managements von Familie und Beruf erledigt Bea quasi alles, was mit der Leitung des großen Hauses zu tun hat: Wohnungen renovieren und vermieten, Mieter rund um die Uhr zufrieden stellen, Formulare ausfüllen, Personal einstellen und und und.
Dabei zeigt Bea sich nie gestresst. Sie betrachtet alles als Herausforderung, die es zu meistern gilt und die einen nach vorne bringt. Sie ist ein sonniger Charakter, der einfach gerne hilft und für andere da ist.
Als Roy sich von ihr scheiden lässt, ist sie diejenige, die keinen Augenblick daran zweifelt, dass er in eine Wohnung einige Etagen weiter unten einzieht. Mit seiner neuen Frau, versteht sich. So haben die Kinder ihren Vater weiterhin in der Nähe und sie schafft es tatsächlich, sich mit Serena anzufreunden. Diese ist von einem ganz anderen Schlag, doch Bea kitzelt aus jedem das Beste heraus und so wird Ehefrau Nummer 2 zu einer Bereicherung für die Familie.
Das wird mit Roys Ehefrau Nummer 3 nicht anders verlaufen. Bea schafft es sogar, Lisa zu erklären, warum es von Vorteil ist, wenn Roy auch der Vater von Serenas Kind ist. Nachdem Serena mit Beas Schwester May zusammenlebt hätten sie auf einen Fremden zurückgreifen müssen, um schwanger zu werden. Dann doch lieber auf jemanden, den man kennt....
Um diese große Kernfamilie herum werden die Geschichten der Kinder erzählt. Jeder von ihnen wählt einen ganz anderen Weg. Tony zum Beispiel sprach schon als Teenager davon, nach Vietnam zurückzukehren und nach seinen Wurzeln zu suchen. Er tut das dann wirklich zu einem äußerst unpassenden Zeitpunkt. Seine Schwester Jane entflieht dem Clan sofort als sie anfängt zu studieren.
Sie genießt das Alleinsein in ihrer kleinen Wohnung und will nie wieder in das Haus der Eltern zurück. Doch sie kommt gerne zu Besuch, auch ihr Freund Al liebt das Durcheinander bei den Zusammenkünften, die Bea so gerne organisiert.
Das Buch ist in vier Teile unterteilt.
"Die Familie stellt sich vor: Ein Tag und eine Nacht" ist das Eingangskapitel. Hier lernt der Leser alle Beteiligten kennen, und erlebt sie so, wie sie in der Gegenwart leben.
Weiter geht es mit "Vor zehn Jahren und danach: So gut wie eine Familie." Hier ist die Tochter Sara fünf, Roy lernt
Serena kennen, Bea kommt mit dem Hausmeister Dmitri zusammen, die Zwillinge sind gerade ausgezogen.
Im Verlauf dieses Kapitels schreitet die Zeit fort, Roy verliebt sich in Saras Lehrerin Lisa, Serena und May kommen zusammen, Anna sucht nach Oscar, dem von ihr fälschlicherweise entlassenen Portier.
Der dritte Teil trägt die Überschrift "Ein Wiedersehen mit der Familie". Suche nach Orientierung, Schwangerschaften, gegenseitiges füreinander Eintreten, eine Vergrößerung des Clans durch Freunde und Ex-Freunde sind die Themen.
Der letzte und kürzeste Teil beschwört noch einmal die "Familienwerte". Ein großes Fest findet statt, Bea wird fünfzig. Dieser Geburtstag wird zusammen mit Roys Einundfünfzigstem gefeiert. Rückblicke finden statt, Eingeständnisse, Verwirrungen und Auflösungen, Resümees und die Erkenntnis, dass sich alles bewältigen lässt.
Sollte das jetzt kitschig klingen - dem ist nicht so.
Bea ist eine großartige Frau mit einem riesengroßen Herzen. Sie kennt keine Kleinlichkeiten, sie ist nicht die sich aufopfernde Madonna, sie sorgt selbstverständlich dafür, dass es auch ihr selbst gut geht.
Die Personen um sie herum sind nicht ihre Trabanten, sie sind allesamt ausgemachte Individualisten. Was sicher auch damit zu tun hat, dass diese Familie Vielfalt nicht bekämpft, sondern fördert.
Die ganze Geschichte ist mit viel Witz erzählt.
Sie ist eine moderne Komödie, die mit einem Schauplatz auskommt: das Mietshaus, darin vor allem die Wohnungen von Anna, Bea, May und Roy.
Trotz dieser Beschränkung der Autorin auf so wenige Räume wirkt der Roman nicht eng oder beengend.
Die vielen Menschen in diesem Haus bringen so viel Leben mit herein, Schwartz beobachtet so genau und feinsinnig, dass es einfach ein großes Vergnügen ist, dieses hintersinnige Buch zu lesen.
Das im Kern ein Plädoyer für die Vielfalt ist, die sehr wohl Platz in einer altmodischen Struktur finden kann.
Und das auch fast zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen in den USA kein bisschen überholt ist.
Lynne Sharon Schwartz: Alles bleibt in der Familie
Übersetzt von Simone Jakob
Kein & Aber Verlag, 2017, 480 Seiten
(Originalausgabe 1999)