Robert Scheer - Der Duft des Sussita
Robert Scheer kommt 1973 in Carei, Rumänien, zur Welt. Seine Eltern gehören der ungarischen Minderheit an, mit ihnen spricht er ungarisch, in der Schule rumänisch. 1985 wandert die Familie nach Israel aus, dort lernt er Hebräisch. Ausgedehnte Reisen und die Gründung einer Rockgruppe, die erste Erfolge in Großbritannien erlebt (es folgen keine weiteren), fügen die englische Sprache hinzu. Nach dem Ende des Rockstar-Traumes studiert Scheer in Haifa, neben Philosophie deutsche Kultur und Geschichte. Er arbeitet als Dolmetscher und in diversen anderen Berufen.
Heute lebt er in Tübingen, die vorliegenden Erzählungen sind sein literarisches Debüt.
Der kurze Blick in die Vita des Schriftstellers zeigt eine multikulturelle, multisprachliche Person, der jedes eindimensionale Denken fremd ist.
Sein Blick für Widersprüchliches, Mehrdeutiges und Absurdes ist scharf, sein Witz hintergründig, sein Humor eher herzenswarm als schwarz und sehr erhellend.
Der Mehrzahl seiner Erzählungen, die alle in Israel spielen, ist ein Zitat aus Theodor Herzls "Der Judenstaat" oder aus "Altneuland" vorgestellt.
Diese geben das Thema vor, etwa Förderung der Individuali-tät und Schutz des Privateigentums, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung durch das Heer, das Recht auf Behandlung im Spital für jeden Bürger, auch dessen Pflicht zur Arbeit, der Gedanke, dass die Menschen nicht bereit sind für die Demokratie (Herzl bevorzugt die "aristokratische Republik") und dass er einen Feind braucht, um seine Persönlichkeit zu entwickeln, oder auch die Empfehlung,
in die Oper zu gehen.
Diese Gedanken greift Scheer auf und entwickelt aus ihnen Geschichten, in denen ganz und gar heutige Menschen leben, die mit Traditionen konfrontiert werden, absurde Auswüchse der Politik erdulden müssen, Träume haben und diese der Realität anpassen müssen, sich verlieben oder geheiratet werden wollen, solche Absurditäten wie privates Catering für die Soldaten an der Front oder die Privatisierung eines Kibbuz erleben.
Die Geschichten führen die Theorie ad absurdum, zeigen die Vielschichtigkeit der Realität und jedes einzelnen Menschen.
Die erste Erzählung, "Der Duft des Sussita", beschreibt, wie das Auto der Familie - dieses ist nichts geringeres als der "Stolz der Nation", ein in Israel produziertes Fahrzeug aus Kunststoff, auf das man fast so lange warten musste wie auf den Messias - von Kamelen verspeist wird. Richtig.
Kamele sind Feinschmecker, der Sussita duftet nach frischem Brot, er ist eine Delikatesse.
Kann sich ETWAS in NICHTS auflösen? Kann der Stolz der Nation sich einfach so verflüchtigen? Eine Idee so krachend zermalmt werden?
In der zweiten Erzählung treffen Religion und Sport aufein-ander. "Das Evangelium nach Matthäus", Lothar Matthäus, der Fußballer und Trainer ist gemeint. Der trainierte tatsächlich die Mannschaft von Netania einige Zeit, leider verließ er die Stadt früher als geplant. Warum? Weil er nicht den Mittelfeldspieler bekam, der er wollte, um die Mannschaft ganz nach vorn zu bringen. Zu teuer? Nein, er hieß Hamann und aus der Bibel weiß man, dass alle, die Haman im Namen tragen Nachfahren der Amalekiter sind, gewissermaßen Vorfahren der Nazis...., so jedenfalls Rabbi Avramoff, zugleich Manager des Fußballclubs.
In dieser Geschichte taucht auch zum ersten Mal Onkel Sauberger auf. Ein Liebhaber von Schweinefleisch in jeder Zubereitungsart, mit anderen Worten einer, der Tag für Tag schwere Sünden begeht. Er ist gut befreundet mit David Metzger, seinem "Fleisch-Provider". Der versorgt Sauberger mit unkoscherem Essen. Und nicht nur ihn, sondern auch einen hungrigen Marokkaner (in der Erzählung "Hunger"), den Sauberger nicht sterben sehen möchte in dem Wissen, dass der arme Mann niemals Schweinernes genossen hat.
Oder die Soldaten, die an der Front hungern, weil der Catering-Service nicht ins Kriegsgebiet liefert.
Das ist die Stunde Onkel Saubergers. Hier muss nicht gebetet sondern gehandelt werden.
Er ist der sympathische Querkopf. Laut, eigensinnig, schlau.
Lebendig, das Gegenteil jeder Theorie. Zuverlässiger Freund des Ich-Erzählers.
Ein anderer Freund ist Kuti. Schon in der Kindheit waren sie enge Freunde, wollten zusammen Rockstar werden.
Nun ist Kuti der Partykönig von Tel Aviv, er ist Besitzer des angesagtesten Clubs der Stadt. Ein Mensch, der nichts anderes will als feiern und leben.
Einen Anschlag auf einen Bus übersteht er fast unverletzt, Kuti und der Erzähler treffen sich zufällig im Krankenhaus.
In allen Geschichten erzählt Scheer Episoden aus dem israelischen Alltag. Komische, tragikomische und tragische.
Verzückte Heiligenstätten-Touristen, diskutierende Studenten im Café, das Paralleluniversum von Musikern, die Macht der Medien, der "Internationalismus der Natur" gegen den "Nationalismus der Kultur", der Tumult bei einer Wagner-Aufführung von Barenboim, ein religiöser Fanatiker, der sein Geld als professioneller Samenspender verdient ("Vermehrt euch"), eine Tochter, die quasi aus Versehen ihre Mutter an einen Araber verkauft - in Wirklichkeit geht es in dieser Geschichte um Tradition versus Aufklärung und Fortschritt.
Ein verrückter Reigen also, beschrieben von einem politisch denkenden Philosophen und orientalischem Literaten, der in jeder Geschichte mehr als eine Ebene anspricht - Scheers Erzählungen sind großes Lesevergnügen. Hintergründiges.
"Dieses Glück. Eine Pilgerfahrt zu heiligen Stätten, die heiligsten Stätten überhaupt. Touristen kommen und gehen. Nur der Konflikt in einem Land mit so vielen Heiligtümern bleibt. Der Ort ist heilig. Friedlich aber nicht. Noch nicht.
Eine Hoffnung besteht dennoch ernsthaft. Seit Jahrzehnten, Jahrhunderten. Jahrtausenden. Frieden. Salam. Schalom."
Robert Scheer: Der Duft des Sussita
Hanser Berlin, 2012, 160 Seiten