Paolo Rumiz - Der unendliche Faden

Reise zu den Benediktinern, den Erbauern Europas

Am Anfang dieser Reise steht eine Art Erweckungserlebnis. Paolo Rumiz, der erfolgreichste Reiseschriftsteller Italiens, wandert durch den Apennin.

Er besucht die von einem Erdbeben zerstörten Städte und Dörfer, fühlt sich an Bosnien und Afghanistan erinnert, und begegnet in Norcia einer Statue, die ihn mitten ins Herz sticht.

 

"In diesem Augenblick sah ich die Statue, taghell erleuchtet in der Mitte der Piazza. Ein Mann mit langem Bart und weiter Kutte hob den Arm, als wolle er auf etwas zwischen Himmel und Erde zeigen. Er stand unversehrt inmitten der Zerstörung, und die Aufschrift lautete: HL. BENEDIKT, SCHUTZPATRON EUROPAS. Ich spürte einen Stich ins Herz. Bis jetzt war mir nicht bewusst gewesen, dass der Heilige eine Beziehung zu Norcia hatte, zum Ursprung des Kontinents, dem ich mich zugehörig fühlte."

 

Diese Begegnung mit Benedikt fand im April 2017 statt.

Sie ist der Anlass für eine Reise durch weite Teile Europas - Paolo Rumiz besucht Benediktiner Abteien in Italien, der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Belgien. Er fährt auch in den Osten, über Österreich nach Ungarn, von dort aus kehrt er nach Italien zurück. 

 

Fünfzehn Abteien, fünfzehn Begegnungen mit Äbten und Mönchen, mit ebenso vielen verschiedenen Auslegungen der Klosterregeln, mit ganz unterschiedlichen Mentalitäten, mit Gesprächen, Führungen, Musik und Schweigen - diese Reise ist eine Umrundung und Durchquerung der Welt des Glaubens und genauso wichtig: eine Bestandsaufnahme Europas.

 

Jedes Kapitel hat seinen Schwerpunkt.

Im Veneto lernt Rumiz die "demokratische Unordnung" kennen, im bayrischen St. Ottilien die Wichtigkeit des Zuhörens und die Zerstörungskraft der Angst, die Abtei Viboldone steht für das weibliche Prinzip innerhalb des benediktinischen Denkens, in Südtirol erfährt er die Kraft der Stille und der Musik - die Aufzählung ließe sich fortsetzen. 

 

Auch für Nicht-Gläubige ist dieser Blick in eine verborgene, dem Alltag entlegene Welt sehr interessant. 

Rumiz versteht es, die LeserInnen mit abwechslungsreichen Essays, in denen sich Beschreibungen, Dialoge und Reflexionen abwechseln, zu fesseln.

 

Doch der flammende Befürworter Europas beschreibt nicht in erster Linie eine abgeschlossene Welt, er wird nicht müde in jedem Kapitel darauf hinzuweisen, dass die Idee von Europa nicht vom Himmel gefallen ist, dass sie geboren, gebaut, gepflegt, weitergetragen und verzweigt wurde - und nun dringend wiederbelebt und gefestigt werden müsste.

 

Europa, das schon immer ein Durchzugsraum verschiedener Völker war, ein Ort großer Integrationskraft, ein Kontinent, der nicht in der Abschottung groß wurde, sondern durch Gastfreundschaft, Überzeugung durch Ideen, durch Vereinnahmung mittels Kultur und Kultivierung.

 

"Die Grundprinzipien der Benediktiner sind klar: Respekt vor dem Individuum, ein offenes Ohr gegenüber der Gemeinschaft, geteilte Verantwortung."

 

Handelte die Politik nach diesen Grundsätzen, sähe es in Europa anders aus!

 

"Ausgerechnet jetzt, wo wir einander in Europa immer ähnlicher werden, wo jeder dasselbe globale Dorf bewohnt, wo wir alle entwurzelt sind, dieselben Flüchtlings- und Finanzkrisen erleben, ausgerechnet jetzt verbreitet sich die gefährliche Illusion, dass es besser wäre, sich abzugrenzen. ... Noch nie in der Geschichte haben wir so viele gemeinsame Probleme gehabt, doch Europa streitet, anstatt zusammen zu rücken, stellt Zäune auf, teilt sich, stellt die Demokratie in Frage. Es verleugnet seine Wurzeln. Vergisst, dass es ein Land der Regeln ist. Das Land Benedikts."

 

 

Paolo Rumiz, geboren 1947 in Triest, sucht in all seinen Büchern das Verbindende, das, was aus dem geographischen Kontinent das politische und kulturelle Europa macht.

 

In "Via Appia" folgt der der alten Römerstraße durch Europa, das Buch "Die Seele des Flusses - Auf dem Po durch ein unbekanntes Italien" folgt dem Lauf dieses mächtigen Stromes, um die Geschichte und Kultur des Landes zu erkunden. "Der Leuchtturm" beschreibt eine Reise zu einer sehr kleinen Insel mitten im Mittelmeer, wo er eine zeitlang lebt und dort über die mediterrane Kultur, das einstmals Verbindende des Mittelmeeres, die Lingua franca und die von Gier bestimmte Politik des modernen Menschen nachdenkt.

 

Rumiz´ Essays und Reisebeschreibungen sind im Kern politische Texte, die sich nicht scheuen, von Spiritualität zu sprechen. Vom Geist eines Ortes, der Faszination der Stille, in die sich etwas Unbenennbares senkt, der magnetischen Wirkung einer Statue oder eines Gemäldes.

Doch er tut dies nie um seiner selbst willen, im Gegenteil, diese Erlebnisse sind für ihn Grundlage des Ringens um eine Welt, die er noch nicht aufgegeben hat. Für die er kämpft und seine Kollegen, jene "Handwerker des Worts" an ihre Pflicht erinnert:

"Vor allem die Schriftsteller müssten dafür sorgen, dass dieser konstante Fluss an Nachrichten, Informationen, Meinungen, Worten unterwegs nicht seine kostbarste Last verliert: die Menschlichkeit."

 

Im Jahr 2018 endet die Rundreise wieder in Italien, nicht alle Begegnungen waren freudig. Rumiz erlebte auch die Kommerzialisierung mancher Klöster mit Fähnchen und Souvenirs, er hatte in Ungarn den Eindruck, weit von der Ökumene der Westkirche entfernt zu sein, "hier ist auch Gott Ungar." Doch die Hoffnung lässt er sich nicht nehmen:

 

"Ich bin mir sicher: Es gibt ein anderes Europa, von dem nur wenig gesprochen wird. Ein junges und leidenschaftliches Europa, das träumt, reist, arbeitet, Widerstand leistet, kämpft. Ein Europa, das die Verantwortung für die eigenen Krisen übernimmt und die Schuld dafür nicht auf die Ärmsten der Armen projiziert.  ...  Mut und Herz also."

 

Der Faden steht sinnbildlich für das benediktinische Netzwerk, das den "Kontinent besser zusammengehalten und verteidigt hat als hundert Heere und Millionen Schützengräben" - noch ist es nicht zu spät.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Paolo Rumiz: Der unendliche Faden

Reise zu den Benediktinern, den Erbauern Europas

Übersetzt von Karin Fleischanderl

Folio Verlag, TransferBibliothek, 2020, 237 Seiten

(Originalausgabe 2019)