Ralf Rothmann - Hotel der Schlaflosen
Ralf Rothmann, geb. 1953 in Schleswig, aufgewachsen im Ruhrgebiet, das er mit Anfang zwanzig verließ, um nach Berlin zu ziehen, wo er heute noch lebt, gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten und besten Schriftstellern unserer Zeit. Fünfzehn Romane und Erzählungs-bände hat er bislang veröffentlicht,
sie alle tragen autobiographische Züge, spielen meist im Ruhrpott oder in Berlin. In poetischem Realismus erzählen sie die Nachkriegszeit Deutschlands, die noch immer nicht abgeschlossen ist.
Nun ist ein weiterer Band erschienen, elf meisterhafte Erzählungen, eine besser als die andere.
Die titelgebende Geschichte ist eine, die sich tief ins
Gedächtnis einbrennt. Hier erzählt Wassili Blochin,
der unter Stalin unzählige Hinrichtungen durchführte,
von seiner letzten Begegnung mit dem Schriftsteller Isaak Babel. Ihn, wie viele andere Intellektuelle, und auch seine
einstmals eigenen Gefolgsleute, erschoss er während der sogenannten `Säuberungen´.
Auf kleinstem Raum gelingt Ralf Rothmann hier die Beschreibung eines Systems und eines Menschen in all seiner Kaltblütigkeit.
"Nie hatte ich Schwierigkeiten damit gehabt, Trotzkisten, Saboteure oder Spione umzulegen, und wenn es noch so hohe Tiere waren. ... Aber meinen eigenen Leuten in aller Sachlichkeit und ohne Blick zurück die `Walther´ in den Nacken zu drücken, das kostete Nerven.
Seit Jahren hatten wir zusammen im Akkord geschuftet, auch noch in diesem Hotel. Wir luden uns gegenseitig die Pistolen, trugen die Toten aus dem Keller und wischten ihr Gehirn von den Wänden, und abends fuhren wir rauf in die Suiten und kochten und besoffen uns gemeinsam...."
Zynisch und spitzfindig setzt Blochin sich in seinem letzten Gespräch mit dem schwer gefolterten Babel und seinem Werk auseinander, voller Verachtung blickt er auf den "Poetenrest". Bevor er ihn erschießt, nimmt er ihm noch die Fingerabdrücke als eine besondere Form der Widmung eines Buches ab.
Eine andere Erzählung, sie spielt nicht im Krieg, ist aber ebenso hart, trägt den Titel "Auch das geht vorbei".
Protagonistin ist Marlies, man lernt sie als Kind kennen und begleitet sie bis ins Erwachsenenalter hinein.
Sie wird in den 1950er Jahren groß, Jahre, die vom Versuch
zu vergessen geprägt waren. Für Marlies waren es Jahre der Prügel, die sie von ihrer Mutter für das kleinste Vergehen bezog. Die auch vom Vater keine Hilfe zu erwarten hatte,
von den Nachbarn nicht, von niemandem. Man sah weg.
Von der Mutter als "Mistpacksaustückfickdreck!" bezeichnet, verlässt sie das Elternhaus so früh wie möglich, doch sie bekommt keinen Fuß auf den Boden. Ihr Lebensweg führt immer weiter abwärts. Die Gewalt, die sie erfahren hat, gibt sie weiter. Bis sie nicht mehr kann.
Diese Erzählung bildet nicht nur den Geist der Zeit, die Traumata der Menschen, die zunichte gemachten Hoffnungen ab, sondern auch die Verzweiflung eines Menschen, der keine Chance hatte. Von Anfang an nicht.
Ralf Rothmann verzichtet in allen Geschichten auf Beschreibungen der Szenerie.
Er konzentriert sich auf seine Figuren, erzählt aus ihnen heraus, ob er in der Ich-Form schreibt oder von außen auf ein Leben blickt. Das, was er an Außenwelt zeigt, ist das, was seine Figuren sehen. So betreten die LeserInnen eine Welt, die sie mit den Augen der Protagonisten wahrnehmen.
Mit wenigen präzisen Worten beschreibt Ralf Rothmann eine Welt, eine Haltung, einen Menschen oder ein Geschehnis.
"Die Mutter raucht auch, aber allein in der Küche, wo sie ihren Moralischen hat. Sie wickelt kleine Pfennigsäulen in Zeitungspapier, doch als ein Bettler anklopft, weist sie ihn ab. Wer schenkt mir was. Schrankwand, Kühlschrank, alles auf Raten. Eine neue `Constructa´, aber kein Geld für das Kommunionkleid ..." (Aus der Erzählung "Auch das geht vorbei").
"Und seien wir ehrlich, unsereins war doch froh, dass es diese schöne hohe Mauer gab, oder? Die Ost-Spießer mit ihren stinkenden Trabbis hielten sich in Grenzen, und die West-Spießer, die nach Apfelshampoo rochen und immer über die Scheiße auf den Bürgersteigen fluchten, blieben auch außen vor. Man war unter sich auf dieser bunt gescheckten Narreninsel ..." (Aus: "Das Sternbild der Idioten", angesiedelt in Berlin zu Beginn der 1980er Jahre).
"Es war unsere Tochter, Carolin. Sie war sehr begabt, wie Sie. Und sie hatte ihren eigenen Kopf, wie Sie. Es ging ihr nichts über ihre Farben und das Alleinsein in Freiheit, und sie glaubte ernsthaft, Bedenkenlosigkeit sei ein Schutz.
Fragen Sie mich also besser nicht, was mit ihr passiert ist."
(So der alternde Professor zu der jungen Reisenden Sophia in der mexikanischen Wüste in der Erzählung "Die Nacht in der Wüste").
Die Bandbreite der Figuren reicht vom sechsjährigen Jungen, über den Abiturienten und Studenten, den Arbeiter, die Geigerin und andere mehr bis zu einem älteren Mann, der in Schleswig-Holstein nach dem Dorf seiner Großeltern sucht.
Ralf Rothmann erzählt von den verschiedensten Leben und von einem besonderen Ereignis darin. In diesem kristallisiert sich heraus, was nur der Dichter zu fassen vermag.
Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen, Erzählungen
Suhrkamp Verlag, 2020, 200 Seiten