Luigi Reitani - Hölderlin übersetzen

Gedanken über einen Dichter auf der Flucht

Vor zweihundertfünfzig Jahren wurde der große Dichter Friedrich Hölderlin geboren (1770-1843) . Die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte er im Turm in Tübingen, er gilt als einer der schwierigsten Poeten, als dunkel und mysteriös werden seine Gedichte bezeichnet.  Er lässt sich weder der Klassik noch der Romantik zuordnen, er wurde von Nationalisten ebenso für sich beansprucht wie von Freigeistern. Er galt als verrückt,

es gibt auch die These, er habe dies vorgetäuscht, um einer Verhaftung zu entgehen. Womöglich war er auch bei einer Behandlung mit Blei vergiftet worden.

 

Sicher ist, dass er wunderbare Gedichte geschrieben hat,

die Generationen von Dichtern nach ihm beeinflusst haben.

Nicht nur die, die in Hölderlins Muttersprache schreiben, auch in Italien "sind sein Denken und Dichten ein Teil der Kultur dieses Landes geworden, so sehr, dass sich namhafte Autoren und Komponisten darauf bezogen und geistige Nahrung für ihre eigene Arbeit entdeckten."

 

Luigi Reitani, Professor für Deutsche Literatur in Udine und Herausgeber einer kommentierten italienischen Ausgabe der Werke Hölderlins, hat mit "Hölderlin übersetzen" einen Essay-Band vorgelegt, in dem er die Frage, wie sich die Gedichte ins Italienische übertragen lassen, stellt.

Darüber hinaus ist aber die Frage, wie sich die Gedichte in die heutige Zeit übersetzen lassen, sehr wichtig - für LeserInnen, die Hölderlin sowieso auf Deutsch lesen, ist dies die wichtigere Überlegung.

 

Denn es hat sich in den vergangenen zweihundert Jahren alles verändert: der Sprachgebrauch bis in die Bedeutung einzelner Wörter hinein, der Bildungshorizont - wer spricht heute noch Griechisch und Latein, wer kennt die klassischen Philosophen, hat zugleich ein Theologiestudium absolviert und interessiert sich für die moderne republikanische Idee? Liest jeden wichtigen Reisebericht - ein damals neues Genre? Ist fasziniert von den neuen wissenschaftlichen Entdeckun-gen und Errungenschaften wie der Montgolfiere, die es plötzlich möglich macht, die Welt von oben zu sehen?

 

All dies sollte man im Hinterkopf präsent haben, wenn man Gedichte liest, die so alt sind.

Und doch üben sie `einfach so´ eine Strahlkraft aus, die unerklärlich scheint. So unmittelbar sinnlich, so die LeserIn umarmend sind die Gedichte Hölderlins - bei aller wissenschaftlichen und systematischen Erforschung und Deutung verlieren sie nicht diese ganz direkte Wirkung. 

 

Luigi Reitani macht sich Gedanken zur Verschmelzung von Orient und Okzident, zu Heimat und Fremde, zu Semantik, Klängen, Tonlage, zur Frage der "absoluten Sprache", die jedoch zugleich in ihrem "geschichtlichen Kontext belassen" werden muss, er spricht über die "Strukturierung des Raums"

in den Gedichten Hölderlins, über die "Aufgabe des Dichters, die ganze Welt zu erfassen" (eine Aufgabe, die Hölderlin sich selbst gestellt hat), er spricht über die Veränderung des Italienbildes durch die Gedichte Hölderlins: weg vom "harmonischen Naturbild" (geprägt u.a. von Goethe) -

"Die italienische Landschaft wird zum Raum einer historischen Offenbarung, einer Epiphanie. Ein solches Bild kannte die deutsche Literatur nicht."

 

Er führt aus, welch großer Erneuerer der Dichter Hölderlin ist. Als Übersetzer, der für jedes Wort, jede Zeile, jeden Rhythmus ein Adäquat suchen muss, hat Reitani das Werk des Dichters durchleuchtet, durchschritten.

Indem der auf die Arbeit des Übersetzers eingeht, gibt er jeder LeserIn eine geistige Gehhilfe an die Hand, die es möglich macht, die Gedichte mit den Augen des "Fremden" zu betrachten, sie von außen, neugierig, kindlich zu lesen.

 

Insofern sind die Ausführungen keineswegs eine fachliche Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema der Übersetzung, sondern eine Begleitung bei der Lektüre der Gedichte. Ein gut lesbarer Text, der auf 100 Seiten viele Blicke auf das Werk Hölderlins richtet und auch darüber hinaus auf Gedichte, die von ihm inspiriert wurden, deutsche wie italienische. 

Luigi Reitani zeigt auf, wie modern die Gedichte Hölderlins sind, wie weit sein Sprach-und Gedankenraum, wie verortet und wie überzeitlich sein Werk.

Er macht wirklich Lust, einen Gedichtband Hölderlins in die Hand zu nehmen, und mit und in ihm zu verschwinden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Luigi Reitani: Hölderlin übersetzen -

Gedanken über einen Dichter auf der Flucht

Folio Verlag, 2020, 104 Seiten