Rapunzel - Brüder Grimm

Nacherzählt und illustriert von Francesca Dell´Orto

Welch üppige Gärten, voll runder Salatköpfe in den verschiedensten Grüntönen, appetitlich angerei-chert mit ein wenig Rot. Struktur und Halt gebende Stäbe weisen genauso nach oben wie einige schlanke hohe Pflanzen - sie lenken den Blick auf das kleine Häuschen oberhalb der Mauer, die den Garten umgibt. Vor dem Häuschen steht ein sehr schmaler Mann, aus dem Dachfenster schaut eine Frau sehnsüchtig hinüber in den Garten des Nachbarn. Lediglich ein dürrer Strauch wächst neben dem Haus, dahinter etwas Gestrüpp - hier fühlen sich weder Salat noch Gemüse oder Blumen wohl.

 

Dies ist das erste Bild des von Francesca Dell´Orto wunderschön in Szene gesetzten Märchen Rapunzel - es ist in naturalistischem Stil gezeichnet, strahlt jedoch zugleich etwas mystisches aus, erinnert sogar an eine Unterwasser-welt. 

 

Es ist das junge Paar, das ein Kind erwartet. Es ist ihr Blick, der auf den Garten der Zauberin fällt, in dem das verlockende Grün wächst und auf das die junge Frau einen großen Appetit entwickelt. Sie meint, sterben zu müssen, wenn sie nicht "von den herrlichen Rapunzeln zu essen" bekommt. Der Mann holt des nachts mehrmals von dem Grün, so lange, bis die Zauberin ihn erwischt und ihm ihre Strafe für den Diebstahl auferlegt: sie verlangt das Kind.

 

Auf der ersten von mehreren Panoramaseiten kniet der junge Mann vor ihr. Gebieterisch, mit klassisch langen Spinnen-fingern und unglaublich krummer Nase, steht sie vor dem Verzweifelten. "In seiner Not versprach der Mann alles."

 

Gleich nach der Geburt erscheint die Zauberin im bescheidenen Zimmer der jungen Eltern. Die Frau hält das Neugeborene schützend an den Körper gedrückt, das Kind trägt ein Tuch über Kopf und Rücken, das schon an die Haarfülle gemahnt, die es eines Tages schmücken wird.

 

Rapunzel entwickelt sich zum "schönsten Kind unter der Sonne". Zart wie ein Vögelchen ist sie, sie hat zu niemandem auf der Welt Kontakt als zur alten Zauberin.

Diese klettert am langen Haar Rapunzels in den Turm, in dem diese lebt. Ihr Spruch, wann immer sie nach oben will:

"Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!"

 

Einsam steht der Turm in einem Nirgendwo, Pflanzen und Blumen in gedeckten Farben ducken sich an den Boden, manche sehen aus wie Pilze, andere wie Seeigel oder Korallen. Die Sterne am Himmel leuchten nicht gelb oder gar golden, sie sind matt, verschiedene Schattierungen von Grau.

 

Die Ankunft des Prinzen wird begleitet von viel Licht, gleißend hell ist der Hintergrund auf dieser Doppelseite.

Ihr zarter Gesang hat ihn angelockt, ganz Ohr ist er,

verloren wirkt er auf seinem schwarzen Ross, das traurig

den Kopf neigt. 

Man weiß, er hört den Ruf der Zauberin, verschafft sich schließlich selbst Zutritt, indem er den Ruf nachahmt, nach kurzem Schreck gefällt Rapunzel "der junge Königsohn so sehr, dass sie wünschte, ihn wieder und wieder zu sehen."

 

Sie willigt ein, seine Frau zu werden, die beiden planen die Flucht an einem Seidenstrang - die Sonne bricht durch die Wolken, Tauben flattern umher - Hoffnung keimt auf.

 

Ahnungslos fragt Rapunzel eines Tages die alte Frau, warum ihre Kleider so eng geworden sind und nicht mehr passen.

Sofort ist dieser klar, dass die junge Frau, die mit zwölf Jahren, also noch als Mädchen, in den Turm gesperrt worden war, sie betrogen hat. Die Haare fallen, Rapunzel wird an einen einsamen Ort verbannt.

 

Diese Variante folgt der ersten Auflage des Märchens.

Bereits in der zweiten war die Schwangerschaft getilgt,

hier verrät Rapunzel zwar ihr Zusammentreffen mit dem Königssohn, gegen die Schwangerschaft hatten eventuell die Leser protestiert.

 

Der junge Mann geht bald in die Falle. Er klettert hinauf, trifft die Zauberin an - verzweifelt stürzt er sich hinunter

in die schwarze Nacht. Er landet in den Dornen, sticht sich die Augen und erblindet. Verzweifelt irrt er umher, bis er schließlich nach langer Zeit "an den Ort gelangte, wo Rapunzel kümmerlich mit ihren Kindern lebte."

 

Wieder erkennt er sie an ihrem Gesang. Immer noch schön und zart, mit einem Täubchen spielend steht sie neben einem Haus, das ihrem Elternhaus ähnelt, vor ihr ein Kinderwagen.

 

Von leuchtend roten, rosa und lila Blumen umgeben findet ein berührendes Wiedersehen statt, "Ihre Tränen aber benetzten seine Augen, und sie wurden wieder klar."

 

Bald darauf reiten sie zusammen, der Königssohn, Rapunzel, die Zwillinge auf dem nun aufrecht und frei ausschreitenden Pferd zurück in sein Reich, "wo sie mit Freude empfangen wurden." 

 

In diesem Reich dominieren die hellen und leuchtenden Farben, hier ist Leben. Lediglich die Gesichter der wieder-vereinten Liebenden sind noch von den Schrecken der Vergangenheit gezeichnet, sie können ihr Glück noch nicht ganz fassen.

 

Mit kleinen und kleinsten Details hat Francesca Dell´Orto das Märchen ausgestattet und erzählt auf der Farb- und Bildebene die Geschichte parallel mit.

 

Dell´Orto ist nebst Illustratorin auch Kostüm- und Stoffdesignerin, und sie hat für das Theater gearbeitet.

Diese Liebe zur Bühne lässt sich an der Illustration des Märchens erkennen: es wirkt wie auf einer Bühne inszeniert. Ob Wald, Gärten oder Zimmer, Blicke von außen nach innen oder von innen nach draußen, geben beim Betrachten den Eindruck, Räume zu durchschreiten.

Symbole wie Vögel oder bestimmte Pflanzen reichern das Geschehen an, illustrieren nicht nur den Hintergrund, sondern vertiefen den Inhalt.

 

Vor allem im dramatisch entscheidenden Moment, jenem, in dem die Zauberin Rapunzel die Haare abschneidet, vereinigt sie alle Räume in einem großen Tableau: Pflanzen haben sich in das Zimmer geschlichen, die Spindel liegt da und das für die geplante Flucht vorbereitete Seil wickelt sich wie eine Schlange um die verzweifelte Frau, eine Taube lockt mit ausgebreiteten Flügeln vor dem vergitterten, aber geöffneten Fenster, Blätter wehen herein - Anlass zur Hoffnung gibt das grüne Kleid Rapunzels, grün mit Punkten rot wie die Liebe.

 

So lasen sich alle Seiten und Panoramaseiten eingehend betrachten, es findet sich immer wieder ein neues Detail,

ein neuer Verweis - man kann sich aber auch einfach nur an den schönen Bildern erfreuen.

Das werden vor allem die jüngeren Betrachter tun, das Buch ist geeignet für Märchenliebhaber ab drei Jahren.

Hier werden sie sehr fein an eine Geschichte herangeführt, die, so Francesca Dell´Orto, vor allem "eine Geschichte über die Freiheit der Liebe" ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rapunzel

nach den Brüdern Grimm

Nacherzählt von Gertrud Posch und Annabel Lammers

Illustriert von Francesca Dell´Orto

Bohem Verlag, 2019, 52 Seiten

Hardcover mit aufklappbaren Panoramaseiten, Prägung und Sonderfarben

 

 

 

Für alle Leser ab drei Jahren