Uwe Rada - 1988
"Krakau war wie eine Stadt von einem anderen Planeten. War ich hier endlich in diesem Mitteleuropa gelandet,
von dem die Dichter und auch Wiola immer schwärmten?"
Um Mitteleuropa geht es, um Berlin und Krakau, um Revolutionsromantik und Revolution, um Freundschaft und/oder Liebe, um Jan und Wiola.
Um die Zeit kurz vor der Zeitenwende.
Zufällig begegnen sich Jan und Wiola im Mai 1988 in einem Kreuzberger Hinterhof. Er, gebürtiger Westberliner, sie eine Doktorandin aus Polen. Er ist stramm links, mischt in der Hausbesetzer-Szene mit, marschiert im Schwarzen Block und träumt von der Abschaffung des Kapitalismus.
Wiola, die rein äußerlich durch ihre roten Pumps auffällt
(so etwas gehört sich irgendwie nicht im "Revoluzzerkiez"), hat eine andere Sicht auf die Dinge.
"Wie ihr euch in die Schlachten werft, die Opferbereitschaft, die ihr euren Körpern auferlegt, worin unterscheidet sich das von der Verkündigung des Evangeliums?
Kreuzberger Militanz als religiöser Schöpfungsakt - Wiola verstand es zu provozieren."
Wiola promoviert über Adam Mickiewicz (1798-1855), den polnischen Nationaldichter. Sie beschäftigt sich mit "Eros und Erlösung in der Lyrik" des Dichters. Sie kennt sich aus mit den politischen Erlösungsfantasien, sie kennt die Macht des Papstes bzw der Kirche in Polen, sie weiß um die erz-konservative Einstellung ihrer Landsleute.
Die Beziehung der beiden Mittzwanziger steht unter der Frage: ist es Freundschaft oder ist es Liebe?
Jan weiß, dass er in Wiola verliebt ist. Sie entzieht sich ihm jedoch, verlangt, er solle sich entscheiden, zwischen ihrem Köper und ihrer Geschichte.
Neben schönen Begegnungen und Erlebnissen gibt es Szenen, die Jan den Boden unter den Füßen wegreißen.
Jan und Wiola reisen zusammen nach Polen, nachdem Jan sein Visum bekommen hat. Warum? Was sucht er dort,
was sucht sie gerade jetzt dort?
Jan, der schon vor der Reise sehr viel über das Land im Osten gelernt hat - und mit ihm der Leser dieses Romans - begreift, dass er auf seiner Westberliner Insel in einer Blase gelebt hat. Dass die Insel eine Spielwiese ist, die Revolution in Polen aber bitterer Ernst. Seit 1980 gibt es die Solidarnosc, schon 1981 wurde das Kriegsrecht verhängt, im Jahr darauf die Gewerkschaft verboten. Erst im April 1989 wurde sie wieder zugelassen.
Im Herbst 1988, als Jan mit Wiola in Polen ist, toben die Kämpfe im Untergrund und nicht nur dort.
Die Beziehung der beiden wird die gemeinsame Reise nach Polen nicht überstehen, weder als Freundschaft noch als Liebe.
Eines Abends verschwindet Wiola. Dreißig Jahre später bekommt Jan einen Brief von ihr. Dieser kommt aus Krakau, sie fragt, ob er sich noch an sie erinnere?
Jan, inzwischen etabliert und liiert, macht sich ohne zu zögern auf den Weg. Er fährt von Berlin nach Krakau, die gleiche Strecke wie damals, als er durch das Land hinter
dem Eisernen Vorhang fuhr. Er legt die alten Cassetten ein, sie liefern den Soundtrack der Vergangenheit.
Der ganze Roman ist aus der Erinnerung heraus geschrieben. "Obwohl mir die Wiolastory inzwischen vorkommt wie ein Film, dessen Drehbuch jeder abgelehnt hätte, weil es nicht einmal einen roten Faden gab. Aber vielleicht kann man sich an unsere Geschichte, die unseres Jahres, nur so erinnern: kreisend, vom Anfang und zugleich vom Ende beginnend, episodisch, elliptisch."
Genau so hat Uwe Rada seinen Roman verfasst.
Aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachtet er die Stadt Berlin, zieht Linien nach Nowa Huta, Krakau und anderen Orten in Polen - politische, kulturelle, persönliche Linien. Dazwischen Wiola und Jan.
Das so ungleiche Paar zwischen den Welten trudelt durch die Geschichte, auf der Suche nach Liebe und Boden unter den Füßen. Beide hoffen auf ein Mitteleuropa, das bislang nur die Schriftsteller bei einem Kongres in Berlin beschwören:
wie könnte es aussehen, dieses Zwischenland, das West und Ost miteinander verbindet und eine alte Idee von Kultur wieder aufleben lässt?
Was aus der Idee Mitteleuropa wurde, wissen wir heute.
Wiola bleibt für Jan und für den Leser ein Rätsel, so lange,
bis er ihre Geschichte in den Händen hält.
Und auch dann noch.
Uwe Rada: 1988
edition. fotoTAPETA, 2017, 256 Seiten