Marius Daniel Popescu - Die Farben der Schwalbe
Ein Wanderer zwischen Rumänien und der Schweiz, zwischen der Gegenwart als Plakatkleber und Schriftsteller in Lausanne und der vergangenen Kindheit, Jugend und Studentenzeit im Land der "Einheitspartei". Erinnerungen an die Großmutter und Mutter, an die Zeit, als die eigene Tochter klein war - Popescus Roman ist eine kunstvolle Verflechtung von verschiedenen Zeitebenen.
Und mehr als das: es gibt eine Stimme, die von einem "Du" berichtet. Von "dir" erzählt, gleich zu Beginn vom Tod der Mutter:
"Du stehst vor dem Leichenhaus des städtischen Kranken-hauses, bei dir sind deine Cousine und dein Onkel, ihr steht da und sprecht von der Toten, die ihr hier abholt."
Auf dieses Ereignis - es ist eine ganze Serie von Handlungen, von der Besorgung des Sarges, dem Hineinlegen der Mutter in diesen, dem Transport zum Friedhof etc - kommt die Erzählstimme immer wieder zu sprechen.
Parallel dazu berichtet der Erzähler selbst, zum ersten Mal, als er mit einem ihm unbekannten Mann durch die nächtliche Stadt wandert:
"Nach einer Stunde an dem Tisch habe ich die Kaffees und meine drei Gläser Whisky bezahlt, ich habe zu ihm gesagt, "gehen wir!"..."
Als dritte Variante erfährt der Leser: "Er liest mehrere Zeitungen pro Tag..."
Drei Blickwinkel also auf einen Menschen, die aus alltäglichen Handlungen und so ungemein wichtigen Ereignissen wie der Geburt der Tochter oder dem Tod der Mutter, ein Bild seines Lebens weben.
Mehrere "Zuhause" hatte der Protagonist als Kind.
Das liebste war ihm das bei seiner Großmutter, hier hatte er Raum, Freunde und die "Freiheit des Landlebens", "fern jeden Einflusses der Einheitspartei".
Später wird er den Umbruch 1989/90 erleben, daran teilnehmen und in der Gegenwart feststellen:
"...der heutige Präsident war ein hochrangiger Vertreter der Einheitspartei, die Partei, die heute an der Macht ist, ist eine neue Art Einheitspartei". Das heißt, jener Partei, die einst verhaftet, deportiert und gemordet hat.
Sehr beeindruckend ist die Zuwendung, das liebevolle Verhältnis des Protagonisten zu seiner Tochter.
Auch hier fehlt ein Name, sie ist eine "sie", mit der er spricht, spielt, lebt.
Zwei Töchter hat er und auch eine Frau, manchmal ist nicht klar, wer "sie" gerade ist, doch das macht die Lektüre nicht unangenehm. Es wirkt eher verlangsamend und fügt den verschiedenen Blickwinkeln und Zeitebenen eine weitere Variante hinzu.
Eine besonders schöne Episode ist der Bericht von einer Reise in die Berge zwischen Frankreich und der Schweiz.
"Ich war auf dem Weg zur Begegnung mit einer Schulklasse in der Sekundarschule La Golette... Du warst bei mir, ... du lachtest dich schief, wie du mich auf dem Bahnsteig stehen sahst, umstellt vom Küchentisch, vom Pult, an dem ich arbeite, vom Schrank, ... vom Regal..." etc: der Erzähler nimmt sein ganzes Zimmer mit auf Reisen, er reist mit dem "Sperrgut" all der Gegenstände, die er braucht.
Er nimmt die Worte mit, Bezeichnungen, die Dinge selbst, das würde nicht gehen.
Auch hier wieder: das Flirren der Welten, der aus so viel mehr als der Realität bestehenden Wirklichkeit.
"Sie" kann sich jedenfalls "komfortabel im Schrank" einrichten...
"Es ist komisch, ich fuhr mit dir und Georges im Auto von einem Land, das Schweiz heißt in ein Land, das Frankreich heißt. Ich habe die Namen dieser beiden Länder auf die linke Schranktür geschrieben, für den Fall, dass ich sie vergessen sollte. Du hingegen vergisst einfach gar nichts, du erinnerst dich sogar, dass man jedes beliebige Land in einen Schank stecken kann, du sagst mir oft, dass das Wort Land unzählige Bedeutungen hat, für dich ist sogar ein Mensch ein Land.
Das Land Michelle, das Land Sarah, das Land Georges, das sind die drei Länder, die ich am Anfang meiner Reise zu den Schülern der Sekundarschule La Golette kennen lernte.
Ist Golette der Name eines Landes?"
Das Nachdenken über Länder zieht sich fort, es wird zu einem Nachdenken über Sprache und Sein.
"Ihr nehmt das Wort Land, ihr zieht es an den Ohren und an der Nase, ihr gebt ihm ein paar Ohrfeigen und es wird alles sagen, was wird alles zugeben, es wird alles gestehen, es wird zu sprechen beginnen: Ich bin nicht das, was man euch sagt, ich bin weder Krieg noch Frieden; ich bin nicht, was ihr glaubt, ich bin weder Straße noch Siegel; ich bin nicht Gesetz oder Fluss, ich bin nicht bloß ein Wort; ich bin alles, was kommt und alles was geht, ich bin der älteste Vorfahr der Reise."
Eingestreute Gedichte, Konkrete Poesie, erweitern den Roman um eine zusätzliche Sprachform.
Einer der letzten Szenen des Romans spielt auf dem Friedhof. Die Trauergemeinde wartet auf den Priester,
der Protagonist erinnert sich an zwei kürzlich aufgeklebte Plakate, sie zeigten Frauen mit einem Kind. Er schüttelt Hände, die Messe beginnt, eine Frau kommt auf ihn zu:
"...eine der Nachbarinnen von der Straße deiner Kindheit
hat deine Mutter schon als junges Mädchen gekannt, sie hat ihren schwarzen Batik unter dem Kinn geknotet, sie hält
ein Kind in den Armen dieses Kind bist du vierjährig du bist fast nackt du lächelst du bewegst die Arme die Hände die Finger du spielst irgendwas du vergnügst dich du fühlst
dich wohl in ihren Armen am Begräbnis deiner Mutter du hast keine Angst."
Hier führt er alles noch einmal in ein dichtes Bild zusammen. Der Wanderer nimmt Platz auf einem Schoß, die Länder und Menschen, die Zeiten und Formen des Lebens, sie kristalli-sieren in einer Pieta - um gleich darauf den Erinnerungen an ein viel zu früh verstorbenes Mädchen, erstickt in einem Heim für Problemkinder an einem gestohlenen Stück Fleisch, zu weichen.
So etwas wie Nostalgie gibt es in diesem Roman, auch wenn er sehr tief in die Vergangenheit eintaucht, nicht.
Die letzte Szene: "Ihr" spielt Flottenmanöver, auch
Schiffe-Versenken genannt. Das ist ein großer Bogen,
begann doch der Roman mit den Worten "Du stehst vor
dem Leichenhaus..."
Marius Daniel Popescu: Die Farben der Schwalbe
Übersetzt von Yla M. von Dach
verlag die brotsuppe, 2017, 268 Seiten
(Französische Originalausgabe 2012)