Jurica Pavicic - Ein Tod für ein Leben

"Alles wäre anders gekommen, wenn wir da nicht hingegangen wären.

Dann wäre dein Leben ganz anders verlaufen, und meins vielleicht auch."

Die beiden Freundinnen Susanna und Bruna sitzen zusammen und reden über die Vergangenheit. Sie tun dies im Gefängnis, in dem Bruna seit zehn Jahren sitzt, Susanna besucht sie.

 

Dieses "was wäre gewesen wenn", ist das Thema des Romans von Pavicic. Wie schon in seinem Erzählband "Tabernakel" spürt er auch hier verlorenen Träumen, enttäuschten Hoffnungen und aufgeladener Schuld nach.

Wie sich Korruption, Arbeitslosigkeit und Generationen-konflikte auf gesellschaftliche Strukturen und vor allem auf Familien auswirken, das sind die Fragen, die den 1965 in Split geborenen und heute noch lebenden Schriftsteller interessieren.

 

Wäre Bruna nicht spontan mit Susanna zu Zoranas Geburtstagsparty gegangen, hätte sie nicht ein bisschen Wodka zuviel getrunken, hätte der DJ nicht so oft hintereinander Killing me softly gespielt, hätte sie nicht Frane Saric dort kennengelernt und so gerne mit ihm getanzt, wären die beiden nicht ein Paar geworden - dann hätte Bruna keine elfjährige Haftstrafe wegen "Tötung in einem besonders schweren Fall und aus niederen Beweggründen" absitzen müssen.

 

Wie viele tausend Mal im Leben steht der Mensch an einer Kreuzung, wie viele Handlungen unternimmt er, jede einzelne klein und oft unbedeutend, wie oft kann man falsch abbiegen, ohne dass es Folgen hat? 

 

Bruna hatte von einem ganz normalen Leben mit Beruf, Mann und Kind geträumt. Oder war ganz einfach davon ausgegangen. Es war nicht einmal ein Traum.

Sie ist dreiundzwanzig, als sie Frane kennen lernt, arbeitet in einem Büro, lebt noch in der Wohnung ihrer Mutter Divna.

Frane besucht die Seemannsschule, er wohnt bei seiner

Mutter Anka.

 

Als die beiden heiraten ziehen sie in die obere Etage von Ankas Haus ein. Das ist praktisch, denn so können die jungen Leute abends zum Essen zur Mutter bzw Schwiegermutter gehen, das erspart Bruna das Kochen.

Dies ist der erste terroristische Akt: Anka steckt ihr Terrain ab. Getarnt als Großzügigkeit ist es in Wirklichkeit die völlige Bevormundung des Sohnes, der sich nicht wehrt.

Anka macht klar, dass sie die Königin im Haus ist.

 

"In den folgenden Monaten führten Anka und Bruna einen Kleinkrieg. ... Mutter und Sohn regierten in Brunas Zuhause, und die neue Herrscherin räumte vor den Augen ihres Prinzen die Unordnung der Schwiegertochter auf.

Wenn Bruna nach Hause kam, war der Boden frisch gewischt und die Bücher standen ordentlich im Regal..."

 

Dieser Krieg setzt sich fort und intensiviert sich, wenn

Frane monatelang auf See ist und Anka freie Hand hat.

Das geht so lange, bis Anka einen Schlaganfall erleidet und danach weder sprechen, noch selbst essen oder gehen kann.

Frane weigert sich, die Mutter in ein Heim zu geben.

Seine Schwester Mirela macht klar, dass sie sich nicht um die

Kranke kümmern kann, lediglich finanziell kann sie ein wenig helfen.

Bruna beugt sich. Sie ist diejenige, die Anka vor und nach der Arbeit versorgt. Sie wird damit zur "Herrscherin in diesem komplizierten Doppelhaushalt."

Sie hätte sich gegen diese Vereinnahmung wehren sollen.

 

"Sie hätte Frane in die Augen schauen und sagen können:

Ich kann das nicht. Das ist mir zu viel. Aber an diesem Abend - als es möglich gewesen wäre - hat sie nichts gesagt.

Bei allem, was gewesen war und was noch kommen sollte, war das, und nur das, ihr eigener Fehler. An diesem einen Abend, als sie etwas hätte sagen können, hat sie geschwiegen."

 

Lange Zeit erkundigt sich niemand, wie es Bruna geht:

weder Frane noch Mirela, noch Brunas Mutter Divna.

Das ist deren Schuld.  

Keiner hat gefragt, aus Angst vor der Antwort. 

Und Bruna hat geschwiegen, sie zog es vor zu handeln.

 

Alles hätte ganz anders kommen können, wenn nicht Franes Vater Filip vor vielen vielen Jahren von einem Gerüst gefallen und gestorben wäre. Dann wäre Anka nicht die junge Witwe mit den beiden kleinen Kindern gewesen, sondern vielleicht heute eine zufriedene Rentnerin, die ihren Lebenszweck nicht in der Fürsorge für ihren längst erwachsenen Sohn sähe. Vielleicht.

"Er (Filip) war ins Leere getreten und hatte damit nicht nur seinem Leben eine Wendung gegeben, sondern auch dem Leben einer Unbekannten, die er niemals kennenlernen

sollte und die Bruna hieß."

 

Dieses Nachdenken, Nachspüren und der Versuch, die Gegenwart als Fortsetzung der Vergangenheit zu sehen, 

die Suche nach einer Kontinuität oder gar Kausallogik, 

die vielen Konjunktive entwickeln Brunas Geschichte.

Die auch ganz anders hätte sein können. Wäre sie nicht auf die Party gegangen, hätte sie nicht geschwiegen, hätte jemand nach ihr geschaut - Bruna wird für ihre Tat verurteilt, die anderen müssen ebenso mit ihrer Schuld leben.

 

Pavicic springt geschickt zwischen der Gegenwart des Gefängnisses und der Vergangenheit hin und her.

Er hebt keinen moralischen Zeigefinger, er verteilt keine größeren oder kleineren Mengen an Schuld. 

Er zeichnet seine Figuren mit ruhiger Feder, lässt sie sich entwickeln und wachsen.

 

Er spielt mit dem Gedanken der nährenden Frau.

Der Krieg zwischen Anka und Bruna begann mit dem Kochen. Diese Tätigkeit übernimmt Bruna nach Ankas Schlaganfall. Im Gefängnis arbeitet sie in der Küche.

Später, nach ihrer Entlassung wird sie in einem Restaurant kochen. Und einmal noch wird sie Frane sehen: er ist Gast in jenem Restaurant auf der kleinen Insel, er isst die von ihr zubereitete Speise. Das lässt sie Macht über ihn fühlen.

Hatte sie die jemals über ihn?

Über Anka hatte sie sie, ein paar Monate lang.

 

Die Kleinigkeiten sind es, die ein Leben ausmachen.

Ein Leben zufriedenstellend sein lassen, oder es zerstören.

Denn in der Summe wird aus den Kleinigkeiten das ganze Leben. Pavicic hat einen schönen Ton gefunden, um diese schlichte Erkenntnis in einen Roman zu transformieren,

der den Leser nachhaltig beschäftigt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jurica Pavicic: Ein Tod für ein Leben

Übersetzt von Blanka Stipetic

Schruf & Stipetic, 2017, 220 Seiten (Taschenbuch)

(Originalausgabe 2015)