Jurica Pavicic - Blut und Wasser
Der Roman beginnt im September 1989, er endet im Jahr 2017. Über fast dreißig Jahre hinweg zeichnet er das Leben der Familie Vela nach, die in dem kleinen Städtchen Misto lebt. Dieses liegt in der Nähe von Split - mit erzählt wird die Geschichte der Region, sprich, des Krieges, der zum Zerfall Jugoslawiens führt. Und der neuen Zeit danach: der des Kapitalismus und der Invasion des Tourismus.
In der Nacht vom 22. auf den 23. September 1989 verschwin-det die siebzehnjährige Silva. Sie ist ein lebenslustiges, mitunter rebellisches Mädchen, Zwillingsschwester des ruhigen Mate. Während Mate täglich mit dem Bus nach Split zur Schule fährt, lebt Silva im Schülerinnenheim dort.
Was sie unter der Woche dort macht, weiß niemand.
Diese Tatsache wird allen erst nach dem 23. September klar.
Als sie am Sonntag nicht am Frühstückstisch sitzt, wundert sich zunächst niemand. Die Eltern Vesna und Jakob sind daran gewohnt, dass Silva manchmal bei ihrem Freund Brane übernachtet. Doch der saß in der Nacht im Bus auf dem Rückweg von Rijeka, wo er sich in der Uni eingeschrieben hat. Außerdem sah Mate seine Schwester zusammen mit Adrian das Dorffest verlassen, in Richtung des Berges, auf dem sich seit Ewigkeiten die Liebespaare treffen.
Die Suche beginnt, die Polizei wird eingeschaltet.
Erst als nach einem halben Jahr eine Zeugin auftaucht, die Silva am Sonntag am Busbahnhof gesehen hat, hört die Polizei auf zu ermitteln: man geht nun davon aus, dass Silva ihre Heimat, ihr Leben, freiwillig verlassen hat und an einem anderen Ort lebt. Die Familie klammert sich an den Gedanken: Sie lebt! Und wird niemals aufhören zu suchen.
Über der Suche zerbrechen die Ehe Vesnas und Jakobs, ebenso Jahre später die von Mate und Doris.
Der Vater hatte längst dafür plädiert, aufzugeben. Er ging davon aus, dass Silva sich melden würde, wenn sie dies wollte. Die Mutter vergrub sich in die fixe Vorstellung, ihrem Kind helfen zu müssen, sie von wem auch immer zu befreien. Doris hielt schließlich den Schatten, der Mates ganzes Leben begleitete, nicht mehr aus.
Chronologisch fortschreitend erzählt Jurica Pavicic vom Zerfall der Familie und des Landes.
Ersten Gerüchten folgt die Einberufung der jungen Männer. Auch Adrian, der als Verdächtiger wüst verhört worden war, ist unter ihnen. Der Militärstützpunkt der jugoslawischen Armee wird aufgegeben, die Teilstaaten bekämpfen sich.
Der Aufstieg ehemaliger Kämpfer in Rang und Würden nach dem Krieg wird ebenso thematisiert wie der Ausverkauf des Landes. Alte Seilschaften greifen, die Menschen sind verarmt, internationale Konzerne wittern den Profit, der aus der wunderschönen Landschaft gezogen werden kann.
Ehemalige Polizisten werden zu Immobiliendealern, ehemalige Drogenhändler zu Bürgermeistern. Eine Hand wäscht die andere - auf der Strecke bleiben die normalen, anständigen Menschen. Doch wer ist anständig geblieben?
Kann man das, im Krieg?
Was ein Krimi hätte werden können, wird zu einem Gesell-schaftsporträt. Und, wie auch schon in seinem Vorgänger-roman "Ein Tod für ein Leben", geht Pavicic der Frage nach, welche Rolle der Zufall in einem, in jedem Leben spielt.
Wäre Silva nicht auf das Fest gegangen, wäre sie nicht mit Adrian in der Nacht verschwunden, während ihr Freund im Bus saß, wäre sie nicht nach Split gezogen, hätte sie einen gewissen Mario nicht kennengelernt, wäre der Krieg nicht dazwischen gekommen, hätten sich alle mit ihrem Verschwinden abgefunden ....
Es geht auch um verschiedene Arten von Mord.
Ist schon der Drogendealer ein Mörder?
Ist der im Krieg Gefallene ermordet worden?
Ist der Immobilienhändler, der Unfrieden sät, der Mörder einer Gemeinschaft?
Ist der Steuermann eines großen Frachters ein Mörder,
wenn er nicht anhält, nachdem er einen Schlag hörte und überprüft, ob er ein kleineres Boot gerammt und womöglich versenkt hat? Weiterfährt, ohne die in Seenot Geratenen aufzunehmen?
Diese Überlegungen fließen in den Roman mit ein, der weit mehr ist, als die Geschichte eines verschwundenen Mädchens.
Jurica Pavicic erzählt flüssig, ohne auf Spannung abzuzielen.
Er beschreibt sehr gut die Spirale, in die die Figuren geraten, und aus der sie keinen Ausweg mehr finden. Oder ihn zu
spät finden. Die Vielfalt der Charaktere, ihre Entwicklung,
`das Dorf´, das als Hintergrundbild angelegt ist, die
zeitgeschichtlichen Einflüsse - dies alles macht die Lektüre spannend.
Jurica Pavicic: Blut und Wasser
Aus dem Kroatischen übersetzt von Blanka Stipetic
Schruf & Stipetic, 2020, 276 Seiten
(Originalausgabe 2017)