Hanns-Josef Ortheil - Faustinas Küsse

"Am frühen Abend des 29. Oktober 1786 sah der junge Giovanni Beri, der eben auf einem herbeigerollten Stein Platz genommen hatte, um in Ruhe einen Teller Makkaroni zu verzehren, einen Fremden dem aus nördlicher Richtung auf der Piazza del Popolo eingetroffenen Reisewagen entsteigen."

 

 

 

Dieser Fremde ist kein geringerer als Johann Wolfgang

von Goethe.

Dieser Fremde jubelt, ist außer sich, er scheint die ganze Stadt umarmen zu wollen.

Giovanni Beri lässt vor Staunen seine Makkaroni fallen und beschließt, dem Fremden seine Dienste anzubieten.

Er ist ein junger Mann von 22 Jahren, ohne familiäre Bindungen, ohne feste Arbeit, aber ziemlich überzeugt von sich - schließlich ist er ein echter Römer. Also hat er alleine durch seine Geburt den Nordmenschen mit ihren seltsamen Gewohnheiten einiges voraus.

 

Mit wem er es zu tun hat, muss Beri erst herausfinden.

Der Fremde trägt sich als "Filippo Miller, Maler" in die Liste der Behörden ein. Das glaubt Beri nicht, denn er meint,

"die Künstler haben nicht dieses Bestimmte, diesen Willen, sie sind wechselhaft wie das Wetter..."

Beri vermutet, es mit einem Spion zu tun zu haben und er bietet Seiner Heiligkeit an, für diesen zu spionieren, wie dies Tausende andere in Rom für den Heiligen Vater tun.

 

Er wird geprüft und angenommen. Beri erhält ein Salär von der Kirche und den Auftrag, herauszufinden, wer Filippo Miller wirklich ist und was er im Schilde führt.

 

Von diesem Moment an wird Giovanni Beri zu Goethes Schatten. Er folgt ihm auf Schritt und Tritt, kann sich nur wundern über dessen unermüdliches Rennen durch Straßen, über Treppen und Plätze, in Kirchen: "Er hat die Fremden-krankheit," konstatiert Beri. Dieser registriert jede Bewegung und Regung, er ist schließlich ein Meisterspion.

 

Der Leser wird durch diese Erzählform selbst zum Beobachter, der Goethe durch die Augen des jungen Beri sieht. Dieser erweist sich als erstaunlich feinfühlig, verfügt über einen unverstellten und unverbildeten Blick.

Er hat Ausdauer und liebt das Fabulieren - welch ein glücklicher Einfall des Autors, den Leser mit dieser Stimme zu erfreuen.

 

Beri erlebt die befremdliche Begeisterung des Fremden und seiner Freunde für antike Statuen, für Worte (immerzu reden sie, anstatt die Schönheit der Stadt und der Frauen zu genießen), sie verzichten auf Wein und Tabak, es kommt ihm vor, "als lebte der Fremde nur in seinem Kopf," eindeutig, "dem Fremden fehlte es an Lebensart."

 

Mit viel Eifer und auch Tricks findet Beri schließlich heraus, dass er es mit einem Dichter zu tun hat, einem deutschen Dichter (in seinen Augen ein Widerspruch an sich).

Er erfährt, dass der Dichter lange nichts geschrieben hatte, sich mit Ämtern herumplagte und deshalb nach Rom geflohen sei. Dass er einst ein leidenschaftliches Buch mit grenzenlosen und nicht zu bändigenden Gefühlen geschrieben haben soll, erstaunt ihn um so mehr.

Nun scheint die Poesie nur noch Arbeit zu sein, freudlos, mühsam, ohne Phantasie und Überraschungen.

 

Beri verfällt auf den Gedanken, den Fremden, als dessen "römischen Geist" er sich mittlerweile empfindet, ins wahre Leben zurück führen zu müssen. Und das gelingt nur mit Hilfe der Liebe.

 

Doch gerade, als Beri den Dichter näher kennengelernt hat, reist dieser weiter nach Neapel.

Damit endet der erste Teil des Romans.

 

Der zweite Teil ist Beri gewidmet. Dieser ist abgrundtief traurig, nachdem Goethe, als dessen Seelenverwandter er sich empfindet, abgereist ist. Ohne den Auftrag, sich auf die Rückkehr des vielleicht doch Spions vorzubereiten, wäre er in einem Loch versunken. Doch nun lernt er ein wenig Deutsch - und er liest den Werther.

 

Diesen leidenden Liebenden setzt er gleich mit seinem Schöpfer. Dieser Goethe musste krank sein. War es 

"die Flamme einer nicht erwiderten, nicht erfüllten Liebe,

die jahrelang in ihm brannte, bis sie all sein Dichten und Trachten zerstört hatte?"

Hatte er sich womöglich in eine verheiratete Frau verliebt und war nicht Manns genug, sie trotzdem zu verführen,

wie es ein echter Römer getan hätte?

 

Beri schwankt zwischen Faszination und Verachtung diesem Werther gegenüber.

Da geht er selbst es besser an. Er lernt in einer Osteria eine schöne und unabhängige junge Witwe kennen.

"Er musste Faustina erobern, wagemutig, ohne noch länger zu zögern, er musste dem toten Werther beweisen, wie ein Mann handelte, der sich von einer Frau nicht beschämen lassen wollte!"

Er war dabei, "sein Leben gegen ein Buch zu setzen, um dieses Buch ein für allemal zu vernichten! Nie mehr würde ein junger Mensch sich umbringen, wenn gelungen wäre, was er sich vorgenommen hatte,... denn er, Beri, würde seine Macht brechen, durch sein Verlangen, durch seinen Willen, durch die Liebe zu dieser Faustina!"

 

Giovanni wird mit Faustina den Himmel auf Erden erleben.

 

Da wird Goethes Rückkehr angekündigt.

Beri, der sich als Maler ausgibt, gewinnt Zugang zu den Kreisen des Meisters. Und er bereitet seine Freundin aus Kindertagen, Rosina, darauf vor, eine wichtige Rolle zu spielen. Er will aus Goethe einen "freundlichen, herzlichen, glücklichen" Menschen machen, der seine "nordischen Grübeleien" ablegt und lernt, "so zu leben wie wir."

 

Goethe ist sichtlich entspannt und gelassen, als er aus Neapel zurückkehrt. Er frischt alte Bekanntschaften auf, schließt neue Freundschaften - er hat ein großes Talent, die Menschen anzuziehen - und er öffnet sich dem Geist Roms.

Beri wird zu seinem Führer. Er wird sein Freund. 

Rosina zieht in das Haus am Corso mit ein, doch das Herz des Dichters kann sie nicht erobern. Sie ist realistisch und begnügt sich mit Federico, einem Maler, der ebenfalls zur Entourage Goethes gehört. Und sie erstattet Beri genauestens Bericht, was im Haus vor sich geht.

 

Erzählt ihm von der Unbekannten, die ihn jede Nacht besucht, von den rauschenden Festen der Lust, die die beiden miteinander feiern. Sehr schnell begreift Giovanni, wer die schöne Frau im roten Kleid ist, die den Dichter dem Leben zurückgegeben hat. 

 

Er darf dem Freund nicht verraten, was in ihm vorgeht.

Wieder begegnet Beri dem Werther des Dramas, diesmal

auf eine ganz andere Weise.

Diesmal scheint etwas von der nordischen Art, an der Liebe zu leiden, in ihn eingedrungen zu sein.

 

Es findet ein Rollentausch statt, der im Carnevale seinen Höhepunkt findet, indem er äußerlich sichtbar wird:

Goethe und Beri tauschen die Kleidung. Beri tritt als

Fremder auf, Goethe als Maler.

Beri sieht seine Stadt mit den Augen des Fremden, vieles erscheint ihm plötzlich zu laut und wild, unmoralisch.

 

Spät am Abend sieht er Goethe und seine römische Geliebte am Fenster stehen.

"Ecco! Jetzt war er der Zuschauer! Jetzt stand er, Giovanni Beri, Römer von Geburt, als Fremder vor der Haustür dieses zum Römer gewordenen Fremden und erlebte seine Niederlage, das Ende All seiner Anstrengungen.

Er hatte verloren, er hatte diesen im stillen geführten Zweikampf verloren!"

 

Als Goethe Rom verlässt, wird Giovanni derjenige sein, der Faustina dies mitteilen muss. Goethe wollte sich und ihr den Abschied ersparen.

 

 

Hanns-Josef Ortheil feiert in diesem Roman die Wiedergeburt des Dichters Goethe: nicht durch die Begegnung mit der Antike, sondern durch die Begegnung

mit der Liebe. 

Aufs Wunderbarste verwebt er Literatur und Leben,

Fremd-Sein und den Geist des Ortes, er führt zwei wahlverwandte Seelen aneinander heran, ohne auf die Hürden des Standes Rücksicht zu nehmen.

Anspielungen und Bezüge zur "Italienischen Reise" sind vielfältig, die Charaktere all derer, die Goethe umgeben,

gut recherchiert, Giovanni Beri ist frei erfunden.

Vor allem diese Figur gibt dem Buch seine Leichtigkeit,

seine Ironie, seine Überraschungen.

Er ist der gute Geist, der am Ende viel gewonnen und viel verloren hat. 

 

 

Ein Stück reist er Goethe noch nach, er holt ihn nicht mehr ein. Er kehrt zurück nach Rom, durch die Porta del Popolo.

"Ich eisse Miller, sagte Beri, Filippo Miller. Ich bin ein Maler aus Deutschland. ....Sie grüßten ihn noch einmal, dann setzt sich Beri den Hut auf und machte sich auf den Weg, die Stadt Rom kennenzulernen."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hanns-Josef Ortheil: Faustinas Küsse

Luchterhand Verlag, 1998, 350 Seiten

btb-Taschenbuch, 2000, 350 Seiten