Celeste Ng - Kleine Feuer überall

"In diesem Sommer redeten alle in Shaker Heights darüber, wie Isabelle, das jüngste Kind der Richardsons, schließlich durchdrehte und das Haus niederbrannte." Mit diesem Satz beginnt der Roman. Er spielt in der überaus geordneten Stadt Shaker Heights, in der (fast) ausschließlich Menschen wohnen, die sich der bedingungslosen Einhaltung von                                                             Regeln verschrieben haben.

 

Eine, die dies nicht tut, ist Isabelle, genannt Izzy (15).

Schon ihre wilde Mähne deutet darauf hin, dass sie anders ist. Sie ist nicht freundlich und smart, sie übt Geige mit einem Eifer, der für die anderen schon an Verbissenheit grenzt, sie verschwindet immer schnell in ihrem Zimmer und bis auf ihren Bruder Moody halten alle sie für verrückt.

 

Moody (16) fällt ebenfalls ein bisschen aus dem Rahmen. 

Er ist sanfter, nachdenklicher als sein Bruder Trip (17), vor allem aber fährt er Fahrrad. Das tut sonst niemand in dieser Stadt, in der sich jeder mit dem Auto fortbewegt.

Auch die Älteste, Lexie (18), hat selbstverständlich ein eigenes Auto. Schließlich verdient Mr. Richardson als Anwalt genug Geld, um seine Familie angemessen zu versorgen. 

Mrs Elena Richardson arbeitet als Journalistin bei einem lokalen Blatt. Die hochfliegenden Pläne, die sie als Studentin hatte, sind vergessen und sie ist damit zufrieden, eine intakte Familie zu haben und auf der richtigen Seite zu stehen.

Auf der der Ordnung.

 

Die Richardsons haben ein zweites Haus. Klein, bescheiden, geerbt und vermietet. Die neuen Mieter sind die Fotografin Mia und ihre fünfzehnjährige Tochter Pearl.

Mia ist eine unruhige Seele. Immer, wenn sie ein Projekt beendet hat, zieht sie weiter in die nächste Stadt. 

Mutter und Tochter sind daran gewöhnt, mit dem Nötigsten auszukommen, in improvisierten Wohnungen zu leben und von heute auf morgen aufzubrechen. Das fällt vor allem Pearl allmählich schwer. Kaum hat sie sich ein bisschen eingelebt, geht es weiter. Doch diesmal hat Mia ihr versprochen zu bleiben.

 

Pearl und Moody gehen in sie selbe Klasse, sie freunden sich an. Pearl verbringt ihre Nachmittage bald selbstverständlich bei den Richardsons. Sie ist fasziniert von dieser Art zu leben: alles ist an seinem Platz, man schaut zusammen die Shows im Fernsehen, ärgert sich gegenseitig in ritualisierten Formen. Der angestammte Ort, das Geld und das Wissen, dass man es gut haben wird im Leben, verleiht eine Selbst-Sicherheit, die Pearl nicht kennt. Sie fängt an, sich in diese Familie hineinzuträumen.

 

Izzy hingegen fühlt sich unglaublich angezogen von Mia.

Wenn Mia am Nachmittag zu Hause ist, fährt Izzy zu ihr und lernt von ihr Grundlagen und Techniken der Fotografie, sowie der Bildbearbeitung (nicht am PC, der Roman spielt 1997, und Mia arbeitet mit Filmen, die sie entwickelt und

von Hand gestaltet).

Auch Moody kommt hin und wieder, um mit Pearl Hausauf-gaben zu machen. Als die selbstsichere Lexie in großen Schwierigkeiten ist, wendet sie sich ebenfalls an Mia und Pearl. Ihre Eltern dürfen keinesfalls von ihrem Geheimnis erfahren.

 

Hier stehen sich zwei Lebens-und Familienmodelle gegenüber. Die alleinerziehende Mutter, die sich mit Jobs über Wasser hält, um als Künstlerin leben zu können.

Die großes Verständnis für andere hat, weil sie weiß, wie verschlungen die Lebenswege sein können.

Auf der anderen Seite die perfekte Familie, in der jedoch viel Menschlichkeit auf der Strecke geblieben ist.

 

Zwei weitere Formen sind Thema: eine Kollegin Mias, die junge Bebe, hat aus Verzweiflung ihr Baby vor einer Feuerwache abgelegt, sie hatte nicht gewusst, wie sie das Mädchen May Ling versorgen soll. May Ling heißt nun Mirabelle und lebt bei den McColloughs, engen Freunden der Richardsons. Die McColloughs konnten keine eigenen Kinder bekommen und möchten Mirabelle adoptieren.

Doch Bebe fordert ihre Tochter zurück. Ihre Situation hat sich verändert, sie kann nun für ihre Tochter aufkommen.

 

Es entwickelt sich ein erbitterter Rechtsstreit um das Mädchen, die ganze Stadt, auch die Familie Richardson, redet sich den Kopf heiß. Mr. Richardson vertritt die McColloughs vor Gericht, Elena versucht ihr Mögliches, Stimmung für das Paar zu machen.

 

Bei ihren Recherchen über Mia - auf ihre Mieterin reagiert Elena zunehmend gereizt, eifersüchtig und verstört ("Es ging um etwas Kompliziertes, um das dunkle Unbehagen, das diese Frau in ihr auslöste und das Mrs. Richardson lieber unter Verschluss gehalten hätte.") - kommen noch die Themen Leihmutterschaft und Abtreibung zutage.

 

Elena macht Mias Eltern, zu denen Mia seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hat, ausfindig. Dort erfährt sie vom Unfalltod Warrens, Mias jüngerem Bruder mit siebzehn,

und sie erfährt, dass das Ehepaar Wright nicht weiß, wo Mia, die sich Mia Warren nennt, lebt.

Dieses Ehepaar muss also mit dem Verlust zweier Kinder leben. Dabei spielt auch ihre Weigerung, Mias Kunststudium finanziell zu unterstützen, eine Rolle, doch ob das dem älteren Paar klar ist, bleibt offen.

 

Über all diesen verschiedenen Formen von Familie steht die Frage: "Was machte jemanden zu einer Mutter? War es allein die Biologie oder war es Liebe?"

 

Sehr raffiniert beleuchtet Celeste Ng die unendliche Vielfalt menschlicher Beziehungen. Durch das Nebeneinanderstellen verschiedener Konstellationen - Elena und Mia, Pearl und Moody/Trip/Lexie/Izzy oder Elena in jeweils eigenen Abschnitten des Romans, Mia und ihre Eltern, Mia und ihre Lehrerin Pauline Hawthorne, die ihre begabte Studentin förderte, aber nicht verhindern konnte, dass sie ihr Studium abbrechen musste, die McColloughs und Bebe, fächert sie ein so breites Spektrum an Leben auf, dass sie alleine mit dieser Vielfalt den Planungs-und Ordnungsgedanken Elenas

ad absurdum führt. Das Leben ist kein Ort wie Shaker Heights.

 

Dabei verfällt sie nicht in Schwarz-Weiß-Malerei.

Mia weiß sehr wohl, was sie Pearl mit ihrem Nomadenleben zumutet. Pearl, die eine tiefe Herzensbindung zu Moody hat, lässt sich auf ein sexuelles Abenteuer mit Trip ein, das Moody tief verletzt. Bebe hat May Ling fast verhungern lassen.

Elena hat sich auf unmoralische Weise Zugang zu Informationen verschafft, die schließlich zur Explosion führen. 

Am Ende entscheiden Minuten darüber, dass ein Gespräch, das viel hätte klären können, nicht zustande kommt. 

 

 

Auf beeindruckende Weise entwickelt Celeste Ng ihre Charaktere. Sie legt Spuren und spinnt Fäden, die im Lauf der Geschichte zusammenkommen und ein stimmiges Bild ergeben. 

Wenngleich sie Tat und Täter im ersten Satz nennt, nimmt

das dem Roman keineswegs die Spannung.

Er ist die Beantwortung der Frage, wie es kommen kann,

dass ein Kind sein Elternhaus niederbrennt.

 

Mia hinterlässt jedem Mitglied der Familie Richardson ein Foto, als sie mit Pearl weiterzieht.

 

"Der Umschlag enthielt für jeden ein Foto, irgendetwas zwischen Porträt und Wunsch, gebannt auf Papier.

Mia hatte sie ordentlich aufeinandergelegt, und während Mrs. Richardson die Fotos auf dem Tisch aufreihte, erkannte jeder sofort, welches für ihn bestimmt war. Für die anderen war es nur ein Foto, aber für jeden der Betreffenden war es unerträglich intim, als erhaschte er einen Blick von sich nackt in einem Spiegel."

 

Izzy hatte ihr Foto schon zuvor entdeckt und es mitgenommen. "Diesmal hatte Izzy alle Grenzen überschritten und kam - wie allen in der Familie langsam klar wurde - vielleicht nie mehr zurück."

 

"Obwohl diese Tochter in ihren Augen immer das genaue Gegenteil von ihr war, hatte sie tief im Inneren jenen Funken geerbt, in sich getragen und gehegt, den ihre Mutter vor langer Zeit erstickt hatte, dieselbe brennende Gewissheit, richtig von falsch unterscheiden zu können. Sie dachte an

das Foto mit der goldenen Feder, das sie noch viele Jahre beschäftigen sollte. War es ein Porträt von ihr oder von ihrer Tochter? War sie der Vogel, der den Weg in die Freiheit suchte, oder war sie der Käfig?"

 

 

Mia hatte eine Tür in Izzy geöffnet, die sich nicht mehr schließen lassen wird. Sie hat Izzy angenommen wie sie

ist und sie hat sie ernst genommen. Sie hat sie mit ihrer Menschlichkeit und mit ihrer Kunst bezaubert und verändert.

Das niedergebrannte Haus ist für alle ein Neuanfang.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Celeste Ng: Kleine Feuer überall

Übersetzt von Brigitte Jakobeit

dtv Hardcover, 2018, 384 Seiten

(Originalausgabe 2017)