Eskhol Nevo - Die Wahrheit ist

Dieser Roman basiert auf einer großen Anzahl an Fragen, die dem Autor von Lesern und Redakteuren gestellt wurden. Er beantwortet sie ausführlich und gewissenhaft, er geht dabei weit über die eigentlichen Fragen hinaus, stellt sich der Gegenwart, der Vergang-enheit, seinen Ängsten und reflektiert seine Suche nach einem neuen Weg.

Aus dem Interview entwickelt sich eine                                                 Geschichte. Erstaunlich, dass das geht!

 

Eshkol Nevo, geb. 1971 in Jerusalem, ist einer der renom-miertesten und erfolgreichsten Schriftsteller Israels.

Stünde auf dem Umschlag seines neusten Buches nicht "Roman", man hielte es für eine Autobiographie.

In wie weit sich Dichtung und Wahrheit decken oder mischen, weiß nur der Autor selbst. Interessant für die LeserInnen ist sein Nachdenken über sein Schreiben, die Rolle und Funktion des Schriftstellers und auch, was es für diesem nahestehende Personen bedeutet, einen Schriftsteller zum Mann, Vater oder Freud zu haben. 

 

Er selbst bezeichnet sich als professionellen Lügner.

Er ist sich sicher, alle seine Figuren, sofern sie nicht frei erfunden, sondern an tatsächlich exisitierende Personen angelehnt sind, so weit zu verfremden, dass niemand sie wieder erkennt. Doch da täuscht er sich.

 

Doch zunächst die momentane Situation des Ich-Erzählers: er muss den Auszug seiner sechzehnjährigen Tochter Shira verkraften. Diese wollte unbedingt in ein Internat, weil sie es zu Hause nicht mehr aushielt. 

Seine Ehe steckt in einer tiefen Krise. Seit zwanzig Jahren ist er mit Dikla, der Liebe seines Lebens, verheiratet.

Diese entfernt sich immer weiter von ihm, er spürt, dass sie darüber nachdenkt, sich von ihm zu trennen.

Weniger aufgrund von Unstimmigkeiten, viel eher ist die Liebe langsam gestorben, es ist keine Sehnsucht mehr in Diklas Stimme, sie hat "aufgehört, sich an mir zu erfreuen".

Und dann liegt auch noch sein bester Freund Ari im Krankenhaus, er befindet sich im letzten Stadium einer unheilbaren Krebserkrankung.

 

Sein Schreiben liegt brach. In diese Blockade hinein kommt die Interviewanfrage. 

"Und was bloß ein Interview und nicht mehr hätte werden sollen, gerät nach und nach - denn offenbar kann ich nicht anders - zu einer Geschichte."

 

Geleitet durch die Fragen blickt er auf sein Leben zurück.

Auf die Kindheit, Schulzeit, die Erlebnisse bei der Armee, seine Tätigkeit als Werbetexter, das Kennenlernen Diklas, seine Reisen, die Geburten der Kinder (er hat zwei Töchter und einen Sohn). Er ist sehr sehr ehrlich, versucht nicht auszuweichen oder nach Entschuldigungen zu suchen für die Situationen, in denen er sich nicht richtig verhalten hat.

Das wäre beispielsweise die fragwürdige Tätigkeit für einen Politiker.

 

Durch die Beantwortung der Fragen baut Eshkol Nevo seine Figur zu einer komplexen Persönlichkeit aus, die er stets in all den Figuren spiegelt, die seinen Weg teilen.

So entsteht die Geschichte eines Mannes Mitte vierzig, der auf sein Leben blickt und sich fragt, was aus seinen Träumen wurde.

 

Abgesehen davon, dass diese Lebensbeschreibung sehr interessant ist (schon deshalb, weil sie in Israel spielt), lese ich den Roman auch als einen Kommentar zu der seit einigen Jahren überaus erfolgreichen, aus Skandinavien kommenden Strömung des `radikalen Individualismus´: Ein Schriftsteller erzählt schonungslos aus seinem Leben, ohne Rücksicht auf all jene, die sein Leben teilen.

In Nevos Roman "Die Wahrheit ist", ist dies ein schwedischer Krimischriftsteller, der die Ideen seiner Frau vermarktet.

Bis sie sich wehrt.

 

Der Ich-Erzähler Nevos muss damit zurecht kommen, dass Shira sich von ihm abwandte, weil "er Raubbau an der Seele seiner Tochter betrieben hat." Nachdem sie verstanden hatte, "dass alles, was sie sagt, in einem seiner Bücher landen kann, ihm nichts mehr von sich preisgeben wollte."

 

Er erkennt: "Ich bin ein Lügner geworden, sage ich, ein zwanghafter Geschichtenerzähler. Und ein Kannibale. Alles, was mir passiert, ist Stoff. Selbst als Dikla gesagt hat, ich verlasse dich, nicht, weil ich dich nicht mehr liebe, sondern weil ich dir kein Wort mehr glaube - selbst da habe ich gedacht, das ist ein starker Satz, den muss ich in irgendeiner Geschichte einbauen..."

 

Insofern ist Nevos Roman, der auf das Wesentliche im

Leben blickt, auch ein Plädoyer für die Verantwortung des

Schriftstellers, die neben seiner politischen liegt. 

Meist wird nur nach dieser gefragt...

 

Am Ende des Romans hält der Ich-Erzähler die Rede am Grab seines Freundes Ari. Er erzählt, wie sie sich kennen lernten.

"Das war schön, was du gesagt hat, sagte sie (Dikla), um sich sogleich zu korrigieren. Nicht bloß schön. Wahrhaftig."

 

Mit dem Begriff Wahrhaftigkeit verbinden sich die von

Treue und Verantwortung, ebenso Würde.

Sie ist eine "Denkhaltung, die das Streben nach Wahrheit beinhaltet".

In diesem Sinne ist Eshkol Nevos "Die Wahrheit ist" eine tiefe Suche nach Wahrhaftigkeit im Chaos all dessen, was auf einen Menschen einstürzt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eshkol Nevo: Die Wahrheit ist

Übersetzt von Markus Lemke

dtv Hardcover, 2020, 432 Seiten