Ulrike Möltgen (Illustration) & Kilian Leypold (Text)
Wolfsbrot
In dem allseits bekannten Märchen "Rotkäppchen" ist es ein kleines Mädchen mit roter Kappe, das durch den Wald geht. Es wurde von der Mutter zur Großmutter geschickt, um dieser eine Mahlzeit zu bringen. Unterwegs verlässt es den Weg, es möchte einen Blumenstrauß pflücken. Dabei begegnet das Mädchen dem bösen Wolf, der es aushorcht, wohin es denn gehe. Er rennt voraus zur Großmutter, frisst sie, legt sich in ihr Bett, um anschließend auch Rotkäppchen zu verspeisen.
In "Wolfsbrot" ist es ein Junge mit einer blauen Kappe, der auf dem Weg zur Schule ist. Es ist ein bitterkalter Winter in der Nachkriegszeit, das Essen ist knapp, der Weg führt durch den düsteren Wald und der Junge muss ihn an diesem Tag alleine zurücklegen. Die beiden Nachbarskinder, mit denen er normalerweise geht, liegen mit Fieber im Bett.
Die Geschichte wird rückblickend von dem Jungen selbst erzählt. Zum Zeitpunkt des Geschehens war er sieben oder acht Jahre alt und der Erzähler erinnert sich gut an das, was ihm vor allem Angst machte: einzelne Soldaten, die
erschöpft und hungrig durch die Gegend zogen.
Und die Eiseskälte, die ihn um seine Nase fürchten ließ.
Sie könnte gefrieren und abbrechen.
Um ihren Sohn ein wenig aufzumuntern und zu ermutigen, gibt die Mutter ihm ein schönes Wurstbrot mit auf den Weg.
Eine Kostbarkeit in diesen Zeiten.
Schon vor Sonnenaufgang muss der Junge los.
Er überlegt sich, dass er die erste Hälfte seines Brotes isst, wenn er den dunklen Wald hinter sich hat, das ist nach der ersten Hälfte des Weges. Die zweite Hälfte würde er nach der Schule verspeisen.
Es ist still, er hört nur das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen, es ist unheimlich und er fühlt sich, als sei er der einzige Mensch auf der Welt.
Am Fragebaum angekommen (das ist ein Baum, unter dem jedes Kind eine Frage ehrlich beantworten muss), erkennt er einen Schatten: es ist ein Soldat mit Mantel, Tornister und Karabiner.
"Einer von denen, die nach dem langen Krieg nach Hause schlichen; oder irgendwohin, wo sie hofften, Arbeit zu finden."
Verständlicherweise erschrickt der Junge sehr, doch etwas flößt ihm auch Vertrauen ein. Er sieht, dass der Mantel voller Löcher ist und die Hände, die das Gewehr halten, nur noch Knochen.
Dieser Mann trachtet ihm nicht nach dem Leben.
Er fragt: "Hast du was zu essen?"
Wahrheitsgemäß antwortet der Junge: "Ein Brot. Mit Wurst."
"Wenn du dein Brot mit mir teilst, beschütz ich dich vor den Wölfen."
Der Junge behauptet, keine Angst vor Wölfen zu haben.
Das ist nicht die Wahrheit - die müsste er unter dem Fragebaum eigentlich sagen.
Er hat Angst vor Wölfen. Und er gibt dem Soldaten die Hälfte seines Brotes.
Als diese Gabe geschieht (im Hintergrund dargestellt), steht im Vordergrund des Bildes schon der Wolf und beobachtet die Szene. Ein schwarzer Schatten zwischen schwarzen Schatten, blutrot unterlegt.
Bisher dominierten auf allen Bildern Schwarz, Blautöne und ein silbriges Weiß. Das Gefahr verkündende Rot tauchte zum ersten Mal auf, als der Junge den Soldaten sah.
Doch erst einmal verzieht sich die Gefahr mit dem Soldaten, das Rot. Ein Schimmer Tageslicht erscheint. Der Junge fühlt sich "eigenartig frei und leicht, obwohl es ja so etwas Ähnliches wie ein Raubüberfall gewesen war. Meine Angst war vollkommen verschwunden."
Warum? Weil er so mutig war? Weil der Wald glich zu Ende ist?
Doch da löst sich aus den dunklen Schatten ein etwas hellerer: "Ein großer grauer Wolf."
Die Situation ist sehr gefährlich, das Herz des Jungen rast. Weglaufen würde nicht gehen.
Der Junge sieht, dass der Wolf zwar sehr groß, aber völlig abgemagert ist. Seine Augen erinnern ihn an die Augen des Soldaten, "hungrig und müde."
Er greift in seine Tasche und holt die zweite Hälfte des Brotes heraus. Der Wolf packt das Brot und verschwindet.
Der Junge erreicht kurz darauf den Waldrand, die ersten Sonnenstrahlen lassen die schneebedeckten Felder funkeln, "die Nacht war vorbei."
Ganz lapidar bemerkt er am Ende des Buches:
"An diesem Tag kam ich verdammt hungrig nach Hause."
Der Junge ist an diesem Tag über sich selbst hinaus gewachsen. Er hat seine Angst überwunden und voll menschlichem Mitgefühl für einen, dem es sehr schlecht geht, gehandelt. Eigentlich für zwei, denn der Wolf litt ebenso an Hunger und Erschöpfung wie der Soldat.
Das Rotkäppchen musste dafür büßen, dass es den Weg verlassen hat. Dank des Jägers, der das Rotkäppchen und die Großmutter aus dem Bauch des Wolfes befreit, geht alles nochmal gut aus.
Der Junge in dieser Geschichte geht seinen Weg alleine.
Ohne konkrete Vorgaben der Mutter, was er tun darf und was nicht, geht er in den Wald. Dort retten ihm Mut, Eigen-ständigkeit und Mitgefühl, und nicht zuletzt die Angst selbst, das Leben.
Die Illustrationen fangen ganz wunderbar die Gefühle des Jungen, die Stimmungen der Umgebung, das Unheimliche der Situation und auch die Entwicklung des Jungen ein.
Als er den Wald verlässt, ist er eine große, bildfüllende Gestalt geworden, aufrecht schreitet er in Richtung der großen Berge in der Ferne.
Er ist gewachsen an diesem Tag, das ist offensichtlich und wird hier deutlich dargestellt.
Die Bilder illustrieren nicht den Text, sie erzählen ihn auf eine andere Weise.
Die Realität, das sind Kälte, Hunger, die Grausamkeit der (Nach)Kriegszeit. Ebenso real ist die Phantasie - und wer hätte in einem dunklen Wald nicht zumindest ein mulmiges Gefühl? Die Grenzen zwischen Realität und Phantasie sind nicht deutlich auszumachen, in der Grauzone der Einsamkeit verschwimmen sie.
Das Buch macht Mut.
Es zeigt, dass es Auswege gibt.
Das ästhetisch sehr hochwertige Bilderbuch ist für Leser
ab acht Jahren und für Erwachsene.
Ulrike Möltgen & Kilian Leypold: Wolfsbrot
Kunstanstifter Verlag, 2017, 32 Seiten Hardcover mit Halbleinen und Metallic-Prägung