Joachim Mohr -
Der Revolutionär, der Kapitalist und das Streben nach Glück - Eine Geschichte von Freiheit und Auswanderung
Diese Doppelbiographie ist eine angenehm zu lesende Lektion in Geschichte, die es versteht, ein helles Licht auf eine Zeit, die viel zu wenig bedacht wird, zu werfen.
Das Buch spürt der Zeit um die
1848-er Revolution nach - und zwar in der Provinz. Schauplatz ist die Kleinstadt Kirchheim, 30 km süd-östlich von Stuttgart gelegen.
Und es führt in die große Welt.
Aus Kirchheim stammen die beiden Männer, deren Lebens-geschichten hier erzählt werden.
Der eine ist Jakob Friedrich Schöllkopf (1819-1899), Sohn eines Gerbers. Der andere ist Friedrich Tritschler (1810-1859), auch er Sohn eines Handwerkers, eines Seifensieders mit eigenem Betrieb.
Die beiden teilen die Sehnsucht nach Freiheit und Fortschritt, doch ihre Lebenswege könnten unterschiedlicher nicht sein.
Joachim Mohr wählt die Form der Lebenserinnerungen für seinen Blick ins 19. Jahrhundert. Der bald achtzigjährige Schöllkopf überdenkt sein Leben, wie es in Kirchheim begann, was ihn dazu bewegte, nach Amerika auszuwandern und wie er dort zum Industriemagnaten aufstieg.
In diese Erinnerungen bezieht er den aus dem selben Ort stammenden Tritschler mit ein, dem er in Amerika wieder begegnete, und der eine andere Seite der Freiheitssuche repräsentiert: den Revolutionär, der nicht aus freien Stücken nach Übersee ging, für ihn war es ein Gang ins Exil.
"Der Großindustrielle blickte zurück auf sein eigenes Leben und auf das bereits vergangene des Freiheitskämpfers Tritschler und erkannte das Gewicht beider Lebenswege. Jakob Friedrich Schöllkopf hätte die hier vorliegenden Erinnerungen verfassen können."
So ist es im Prolog zu lesen und damit ist auch gleich der Blickwinkel definiert: der eines geschickten Geschäfts-mannes.
Der erste Satz von Schöllkopfs fiktiven Erinnerungen lautet:
"Friedrich Tritschler war ein wahrlich miserabler Kaufmann."
Wobei sich hier ein wenig ausgeprägter Geschäftssinn mit Unglück paart - kaum hatte er eine Werkstatt aufgebaut, brannte sie vollständig ab. Außerdem lässt Tritschler seine Arbeit stehen und liegen, wann immer es der Kampf um die Demokratie im Königreich Württemberg erfordert.
Die Darstellung des Ringens um Veränderungen, der Kampf für eine Volksversammlung, für das allgemeine Wahlrecht, die vielen Reden, die harte Überzeugungsarbeit, die hier geleistet wurde, dies gelingt Mohr sehr schön, indem er sie im Kleinen, in einer Stadt von damals 5500 Einwohnern,
in Szene setzt. Hierbei zeichnet er den Hintergrund -
die problematische Erbteilung, die Hungernöte durch Missernten, die Willkür des Königs, das politische Hin und Her - sehr anschaulich und historisch gesichert.
Sprich: über die Erinnerungen eines Einzelnen hinausgehend.
Tritschler selbst kommt nicht zu Wort, es werden aber Zeitungsausschnitte zitiert und Belege aus amtlichen Schriften angeführt, aus denen sein politisches Wirken ersichtlich wird.
So verzahnt Mohr die Geschichte der Zeit mit individueller Geschichte und ruft dabei in Erinnerung, dass der Kampf um Demokratie in Deutschland ein Jahrhundert lang dauerte.
Tritschler, der während seiner dreijährigen Lehrzeit in Frankreich (1828-1831) mit den Ideen der Revolution in Kontakt gekommen war, musste 1850 aus Württemberg fliehen. Er verbrachte einige Zeit in der Schweiz, zog jedoch weiter in die Vereinigten Staaten, wo er Mitte 1851 ankam.
Mit Nichts als Mut und auch Verzweiflung im Gepäck.
Er hat es nicht geschafft, auf die Beine zu kommen.
Zermürbt von Arbeit und vielleicht auch, weil er die Demokratie in Amerika verwirklicht sah, hörte er auch auf, sich politisch zu betätigen. So eine Vermutung Schöllkopfs.
Dieser erkennt in Tritschler einen edlen Menschen.
Schöllkopf selbst hatte unglaublichen wirtschaftlichen Erfolg. Er gründete Gerbereien, Mühlen, produzierte Farbstoffe und zwar im großen Stil. Sein größter Coup war die Errichtung eines Wasserkraftwerkes an den Niagara-fällen. Dieses gilt als die erste industrielle Produktionsstätte von Strom. Damit veränderte Schöllkopf "das ganze Leben, nicht nur direkt an den Niagarafällen, sondern in weiten Teilen des Staates New York."
In seinem Lebensrückblick schreibt er jedoch:
"Manchmal beschäftigt mich die Frage, ob Friedrichs Bemühungen wertvoller waren als meine eigenen.
Er kämpfte nicht nur für sich selbst, sondern für alle Menschen in seiner Umgebung, ja: in ganz Deutschland.
Für meine wirtschaftlichen Erfolge werde ich heute in den ganzen Vereinigten Staaten bewundert und verehrt, aber waren diese Siege womöglich eher selbstsüchtiger Natur?"
Diese Frage, die Joachim Mohr seiner literarischen Figur
in den Mund legt, möge jeder Leser für sich beantworten.
Mohr zeichnet beide Lebenswege nach, wobei er sich an
die historischen Fakten hält und klar macht, dass die Suche
nach Freiheit und Fortschritt, das "Streben nach Glück", verschiedene Varianten hat. Eine jede hat ihre Berechtigung.
Doch die Tatsache, dass er seinen Bericht mit den Worten:
"Ich ziehe meinen Hut vor ihm und bezeuge ihm meinen Respekt. Er hatte ein großes Herz und war ein mutiger Kämpfer für die Freiheit. Er war ein wahrer Demokrat und Revolutionär!" enden lässt, legt nahe, wie wichtig es ihm ist, neben dem wirtschaftlichen Fortschritt den politisch- gesellschaftlichen nicht zu vergessen.
Joachim Mohr:
Der Revolutionär, der Kapitalist und das Streben nach Glück
Klöpfer & Meyer, 2018, 160 Seiten