Marco Missiroli - Treue

Was wiegt schwerer: das, was man getan hat, oder das nicht Realisierte?

Das, was eine tiefe Sehnsucht hinter-lässt, nicht abgeschlossen weiter in Kopf und Herz herumgeistert?

Wo fängt Untreue an, wo Lüge, wo Selbstbetrug? Lässt sich das alles überhaupt voneinander trennen?

Diesen Fragen geht Marco Missiroli in seinem Roman einer Ehe nach.

 

Der erste Teil der Geschichte spielt 2009 in Mailand.

Carlo und Margherita Pentecoste sind seit einigen Jahren verheiratet. Sie ist Immobilienmaklerin mit eigener Agentur, er schlägt sich als Literaturdozent in Teilzeit und Redakteur von Reiseführern durch. Beide sind Mitte dreißig, ob sie Kinder möchten, ist noch nicht klar.

Die beiden verstehen sich gut, die Ehe scheint harmonisch zu sein.

 

Da passiert "das Missverständnis": Carlo wird mit der Studentin Sofia auf der Universitätstoilette gesehen.

Seine Version, auf die er auch Sofia trimmt: ihr sei schlecht geworden, er habe ihr geholfen und sich dabei über sie gebeugt. Er wird zum Rektor zitiert, die Sache hat keine weiteren beruflichen Folgen.

 

Private hingegen schon. Margherita lässt sich nicht so leicht abspeisen, die Frage, was tatsächlich geschehen ist, bohrt in ihr weiter. Lässt sie beispielsweise auch daran zweifeln, ob sie wirklich die schöne teure Wohnung kaufen sollen, von der sie träumte, die aber jahrzehntelange Schulden nach sich ziehen würde. 

Sie ist enttäuscht von diesem "Regelverstoß" Carlos.

 

Und sie spürt zugleich eine neue Art Freiheit in sich.

Gibt sich erotischen Fantasien hin, die vor allem um ihren jungen Physiotherapeuten kreisen, Andrea Manfredi.

 

Dieser ist neben Sofia die zweite Nebenperson, die in einem eigenen Erzählstrang beleuchtet wird. 

Er pflegt eine denkwürdige Leidenschaft: er schaut sich Hundekämpfe an. In verlassenen Industriearealen werden die Tiere aufeinandergehetzt, dabei kommt auch sein Lieblingshund zu Tode.

Später nimmt er an Boxkämpfen oder Martial Art teil, seinem Partner Giorgio sagt er: "Ich brauche das".

 

Ein jeder kämpft mit seinen Ängsten und Obsessionen.

 

Für Carlo wird das Ereignis mit Sofia zu einem Symbol eigenen Versagens, das wiegt schwer.

 

Im zweiten Teil des Buches, das neun Jahre später spielt,

hat sich das Leben des Ehepaares gefestigt. Ein fünfjähriger Sohn ist da, Lorenzo. Sie leben in der Traumwohnung.

Margherita hat die eigene Agentur aufgegeben, Carlo ist nicht mehr an der Uni.

Sofia hat den Eisenwarenladen ihres Vaters in Rimini übernommen, Andrea arbeitet als Fitnesstrainer und im Kiosk seiner Eltern. - Diese beiden bleiben nach außen hin ihrer Herkunft treu.

 

Und in allen lebt diese Sehnsucht weiter, diese rückwärts gerichteten Gedanken: was war, was wäre gewesen wenn?

Damit verknüpft Marco Missiroli die Frage, wann ein Mensch erwachsen ist. Nicht in dem Sinne, dass man sich beugt, sondern Verantwortung übernimmt, Vergangenes abschließt. 

 

Diese Themen buchstabiert er aus, fein beobachtet bis in kleine Gesten oder Blicke hinein. Und bis in die Nebenfiguren hinein, zu denen auch Margheritas Mutter Anna gehört,

die nach dem Tod ihres Mannes Postkarten einer Fremden findet, geschrieben vor Jahren, aufbewahrt im Keller.

Sie hinterlassen einen Riss in ihr, stellen sie doch jahrelang als sicher Geltendes auf den Kopf.

 

Das Ende des Romans ist überraschend schlicht. Unerwartet.

Hier geht Marco Missiroli mitten im Satz von einer Person zur anderen über, wirft ein Licht auf jeden, das auf den anderen abstrahlt. Sie sind miteinander verbunden, auch wenn sich die Wege getrennt haben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marco Missiroli: Treue

Aus dem Italienischen von Esther Hansen

Wagenbach Verlag, 2021, 256 Seiten

(Originalausgabe 2019)