Arthur Miller (Text) & Franziska Neubert (Illustrationen) -

Fokus

Arthur Miller (1915 -2005), Sohn jüdischer Einwanderer, ist vor allem für seine gesellschaftskritischen Dramen "Tod eines Handlungsreisenden", 1949, und "Hexenjagd", 1953, bekannt. 

"Fokus" ist der einzige Roman, den er geschrieben hat. Erschienen im Jahr 1945 ist er heute noch oder wieder von    erschreckender Aktualität.

 

Der Roman erzählt die Geschichte von Lawrence Newman, einem Mann nahe fünfzig, Personalchef eines großen New Yorker Unternehmens. Unter seinen Augen arbeiten siebzig Stenotypistinnen - und zwar ganz wörtlich: er hatte die von seinen Vorgesetzten sehr gelobte Idee, zwischen sein Büro und den Schreibsaal eine Glaswand einzubauen. 

So hat er die Damen stets im Blick, das reduziert die Zeiten, die nicht am Arbeitsplatz verbracht werden, erheblich.

 

Newman ist ein geachteter Mann, der sein Selbstvertrauen aus seiner Position in der Firma bezieht. Diese Stellung ist auch die Kompensation für sein Leben ohne eine Ehefrau - von einer solchen träumt er zwar, doch er kommt auch ohne sie aus.

 

Der Roman beginnt mit einem Traum. In diesem befindet sich Newman auf einem Rummelplatz, auf dem sich ein Karussell wild hin und her dreht und unter dem, d.h. "unter dem Boden, auf dem er stand, eine riesenhafte Maschine arbeitete: eine Fabrik." Diesen Traum unterbrechen Hilferufe, die von draußen kommen: eine Frau wird bedrängt und geschlagen, sie ruft "Hilfe!" und "Polizei!"

Newman steht kurz auf und beobachtet die Szene ganz unbeteiligt, schließlich scheint es sich um eine Puerto-ricanerin zu handeln. Die sind ja "an diese Art Behandlung gewöhnt." Weder er noch einer der Nachbarn holt Hilfe oder greift selbst ein. Schnell schläft er nach dieser Unterbrechung wieder ein, sein Bettzeug wird am Morgen fast so glatt sein wie am Abend, "sein rötliches, flach niedergebürstetes Haar würde kaum eines Kammes bedürfen."

 

Besser lässt sich die Biederkeit eines Menschen nicht beschreiben: selbst nachts bringt er nichts in Unordnung.  Die Schwierigkeiten anderer Leute gehen ihn nichts an, zumal wenn es sich um Fremde handelt.

Nur der Traum macht klar: im Untergrund arbeitet es, eine ganze Fabrik ist dabei, etwas zu "erzeugen."

 

Newman kauft seine Zeitung bei Finkelstein, dem einzigen Juden in der Straße. Er hat nichts gegen ihn persönlich, doch er vermeidet jede Berührung, spitzfingrig gibt er ihm das Geld. Sein Nachbar Fred, ein einfacher Mann, fährt mit derselben Bahn zur Arbeit. Sie unterhalten sich über die "Elemente", die man nicht gerne in der Nachbarschaft hat.

Als Zeitvertreib klassifiziert Newman die Leute in der Bahn: Ukrainer, Deutscher, nein Jude usw -  Newman ist nicht dezidiert Rassist oder Antisemit, doch er pflegt eine ganz alltägliche und völlig gewöhnliche Art des Herabschauens auf eben diese "Elemente." Er hat mit "solchen Leuten" schlicht nichts zu tun, er lebt in einer anderen Welt.

 

Das ändert sich schlagartig: es lässt sich allmählich nicht mehr verbergen, dass Newman sehr schlecht sieht. 

Sein Chef fordert ihn auf, sich endlich Augengläser zu besorgen. Das tut er und mit dieser Brille ändert sich alles.

Er setzt die Brille auf und betrachtet sich im Spiegel:

"Ein Jude stand in seinem Badezimmer."

 

Von diesem Tag an benimmt er sich anders. In einem Vor-stellungsgespräch verliert er die Fassung, weil er denkt, die junge Frau hielte ihn für einen Juden (was für ihn immer gleichbedeutend war mit Schwindler). Er selbst hält sie für eine Jüdin wegen ihrer übertriebenen Garderobe - diese gegenseitige oder eingebildete Verdächtigung überfordert ihn.

Er begreift aber auch: "... es war sein Schuldbewusstsein,

weil der üble Charakter, den er den Juden zuschrieb, eine Projektion seiner eigenen Natur war. Alle die betrügerischen Vorspiegelungen, vor allem aber die sinnliche Gier nach Frauen - all dies war in ihm, und er hatte es auf die Juden übertragen. In dieser Sekunde wusste er es, denn in dieser Sekunde hatten ihre Blicke aus ihm einen Juden gemacht. Und seine ungeheuerliche Begierde verbot ihm jeden Widerspruch."

 

Die Projektion der eigenen Fehlbarkeit auf eine Gruppe von Menschen - die klassische Sündenbock-Funktion - und das Wissen, dass es so ist, das ist die Fabrik, die unter dem Boden arbeitet. Und um so vehementer wird die Abwehr und die Abneigung gegen das Andere, gegen alles Fremde.

 

Newman verliert seine Arbeit. Er hätte auf einen einfacheren Posten wechseln können, einen, an dem sein Gesicht nicht mehr so präsent ist, das lehnt er ab. Er sucht sich eine neue Stelle. Bei dieser Suche stellt er eins ums andere Mal fest, dass nicht seine Qualifikation und Persönlichkeit darüber entscheiden, ob er diesen Job bekommt, sondern allein sein Aussehen. Das heißt, die guten Jobs bekommt er nicht.

Er sieht ja aus wie ein Jude.

 

Er versucht, sich besser in seine Nachbarschaft zu fügen.

Ganz symbolträchtig streicht er seine Läden in der Farbe,

die alle Nachbarn haben. Er trinkt ein Bier mit Fred, wird

von diesem sogar eingeladen, der "Christlichen Front" beizutreten, die dafür sogen will, dass die Nachbarschaft wieder "rein" wird. Für kurze Zeit sieht es so aus, als ließe sich alles wieder ins Lot bringen, da findet er eines Morgens seinen ausgeleerten Mülleimer auf dem Gehweg.

Auch Finkelsteins Müll wurde vor dem Haus verteilt.

 

Das ist eine Kampfansage. Und schärft Newmans Blick für die Realität. Er sucht sich eine "niedrigere" Stelle.

Die bekommt er und trifft dort just jene Frau wieder, die ihn einst aus der Fassung brachte, die, die er für eine Jüdin gehalten hatte. Doch sie ist keine. Sie ist eine verkannte Sängerin mit verführerischen Schenkeln, es dauert nicht lange und die beiden heiraten, ohne sich zu kennen.

 

Später wird Newman erfahren, dass sie mit einem Mann,

der eine wichtige Funktion innerhalb der "Front" hatte, in Kalifornien zusammenlebte. Sie rät ihm immer wieder und immer dringender, sich Fred anzuschließen, denn nur die Zugehörigkeit zu jenen, die bald das Sagen haben werden (davon ist Gertrud fest überzeugt), kann sie aus ihrer Isolation holen. Anpassung als Überlebensstrategie ist ihre Methode.

 

Die überall stattfindende Ablehnung, in Hotels, bei der Arbeit, in der Nachbarschaft, öffnet Lawrence Newman jedoch langsam die Augen. Die Brille, die ihn in all dieses stürzte, hilft ihm, die Realität zu sehen.

 

"Er ging in der Richtung des beleuchteten Ladenfensters weiter. Das Grauen seines alten Traums stieg in ihm auf.

Dies war es, was unter jenem harmlosen Karussell fabriziert wurde. Hinter diesen kleinen Häusern mit ihren flachen Dächern wurde nächtlicherweise ein mörderisches Gespenst erzeugt, und die Augen dieses Gespenstes waren nun auf ihn gerichtet. "

 

Zum Prüfstein für sein Denken und Handeln wird Finkel-stein. Er begreift, dass er diesen nie hasste, aber immer bereit gewesen war, es zu tun. "... weil sein Gesicht das Gesicht eines Menschen war, von dem man erwartete, dass er sich abstoßend verhalte."

 

 

In seinen Vorwort von 1984, das dieser Ausgabe beigefügt wurde, schreibt Arthur Miller:

"Der Zusammenhang aber von individueller Voreinge-nommenheit und kollektiver Katastrophe war, als das Buch entstand, noch kein Thema, und doch bestimmt es dessen Struktur und Handlung."

 

Die Struktur ist eine, in der Passagen, in denen Newman alleine gezeigt wird - sein Handeln und Denken, das, was ihm so durch den Kopf geht - Abschnitten gegenübergestellt wird, in welchen er einem Kollektiv begegnet und reagieren muss.

 

Eine ganz wichtige Szene ist der Besuch einer großen Versammlung in der Nachbarschaft. Dort spricht der berühmte "Priester aus Boston", der gleich am Anfang seiner Rede vor der "internationalistischen Presse" warnt.

Er spricht von der Reinigung der Nation, die Zuhörer sind hysterisch, schreien, applaudieren, grunzen vor Begeisterung wie Tiere. Newman war nur hingegangen, um zu zeigen,

dass er auf der richtigen Seite steht, er hoffte, von seinen direkten Nachbarn gesehen zu werden.

Stattdessen wird er von allen Seiten misstrauisch beäugt und schließlich aus dem Saal geworfen und geprügelt mit den Worten "Gottverdammter Saujud! Saujud!"

 

Hier hat sich das Kollektiv massiv gegen ihn vereint.

In einer Szene, die aus einem modernen Wahlkampf stammen könnte. Die Besucher der Veranstaltung sind Menschen, die ihr Selbstbewusstsein aus der Tatsache beziehen, der weißen - und das impliziert christlichen - Mehrheit anzugehören. Wie es auch für Newman kürzlich noch selbstverständlich war.

 

Die Dramatik des Romans ist enorm. Obwohl streng chronologisch fortschreitend erzählt, entsteht durch die mehrfache Aufnahme verschiedener Details in modifizierter Form eine Atmosphäre, die immer dichter wird und am Ende in einer zuerst sehr brutalen, dann sehr menschlichen Szene kulminiert. 

Erst hier, im gemeinsamen Kampf mit Finkelstein, begreift Newman, was in der amerikanischen Gesellschaft abläuft.

 

 

"Mein einziger Hintergedanke ist, dass ich mich nicht aus meinem Haus drängen lasse. Ich habe für dieses Haus bezahlt, und niemand wird mir vorschreiben, ob ich darin wohnen darf oder nicht. Schon gar nicht diese Horde von Irrsinnigen."

Dies sagt Newman zu seiner Frau Gertrud - kurz zuvor

hatte er Finkelstein geraten, wegzuziehen. Ihm also genau das Recht abgesprochen, das er für sich selbst in Anspruch nimmt. Dann wieder hatte er davon gesprochen, man könne Finkelstein zwar auffordern wegzuziehen, aber nicht mit Gewalt.

 

Newman ist verwirrt. "In seinem Kopf drehte sich alles.

Das war ja auch nicht richtig. Was für ein Recht hatte man einem Juden gegenüber? Warum waren seine Gedanken darüber so verworren? Früher einmal war es ihm selbst-verständlich erschienen, dass man die Juden aus einer Gegend, wo sie nicht hingehörten, einfach hinausekelte.

Und jetzt bereitete ihm die bloße Vorstellung solchen Vorgehens ein Gefühl der Übelkeit, denn er sah die verzerrten Gesichter jener Versammlung..."

 

Als er eines Abends mit Gertrud aus dem Kino nach Hause geht, wird er von mehreren Männern angegriffen.

Diese dringen auch in Finkelsteins Kiosk ein, der sich mit Baseballschlägern verteidigt. Newman schlägt sich auf Finkelsteins Seite, die Angreifer lassen schließlich von

ihnen ab. Newman verarztet Finkelstein und "führte seinen Freund zu dessen Haus", dabei empfindet er eine "ruhige Gelassenheit."

Gertrud, die vor den Schlägern weggelaufen war, erwartet ihn nicht zu Hause, sie ist zu Fred gegangen. Sie bleibt bei diesem, als Lawrence sich auf den Weg zur Polizei macht.

 

Während der Polizist wie erwartet reagiert, nämlich zuerst gar nicht, handelt Newman ganz erstaunlich.

Auf die Frage des Polizisten, "Wie viele von ihren Leuten wohnen dort?" antwortet Newman: "Da sind die Finkelsteins an der Ecke ... " - "Nur die und Sie selber?" -

"Ja. Die Finkelsteins und ich."

 

"Es durfte nicht mehr wichtig sein, zu welcher Rasse ein Mensch gehörte - dies schwor er sich, obwohl er selber

bisher immer den Unterschied so ernst genommen hatte."

 

Antisemitismus war zu jener Zeit ein Tabuthema in der amerikanischen Literatur. Obwohl das Phänomen weit verbreitet und alltäglich war. Zwar kurzzeitig unterbrochen als aus Europa die schrecklichen Bilder aus Konzentrations-lagern kamen und Empathie mit den Opfern erzeugten, 

verblasste dieses Mitgefühl wieder, übrig blieb die Abneigung gegen Juden, mit all den Verschwörungstheorien die bis heute lebendig sind.

 

Warum der Roman kaum Beachtung fand und findet, ist mir ein Rätsel. So  grundsätzlich, weitsichtig und trotz der Symbole ganz und gar unmissverständlich wie dieses Werk setzten sich nur wenige mit dem Antisemitismus auseinander. Und nicht "nur" mit diesem, denn der Hass trifft alle, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören. Und kann jederzeit einen jeden treffen, der gestern noch dazu gehörte und heute mit anderen Augen gesehen wird. Wie Newman.

 

Auf Deutsch erschien der Roman erstmals 1955, um dann in einen Dornröschenschlaf zu fallen. Aus diesem wurde er vor kurzem erweckt und liegt nun auch in dieser von Franziska Neubert bebilderten Ausgabe vor.

Ihre Holzschnitte fangen die bedrückende und bedrohliche Stimmung wunderbar ein. Auf keinem einzigen der 20 Bilder ist Newmans Gesicht zu sehen. Es bleibt dem Leser überlassen, "ein Bild für den Protagonisten zu finden. Oder besser: kein Bild. Wie Newman aussieht, spielt keine Rolle. Insofern will ich mit meinen Grafiken dazu anregen, dass wir uns gerade kein Bild von Newman machen...", schreibt die Illustratiorin in einer Nachbemerkung.

Damit betont sie ganz bewusst eine universale Bedeutung des Romans, der sich nicht allein gegen Antisemitismus, sondern gegen jede Art von Rassismus wendet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Arthur Miller: Fokus

Illustriert von Franziska Neubert mit 20 Holzschnitten

Übersetzt von Doris Brehm

Edition Büchergilde, 2017, 280 Seiten

(Originalausgabe 1945)