Francesca Melandri - Über Meereshöhe

Es ist der pure Zufall, dass Luisa und Paolo einander begegnen. Sie treffen sich auf einer Fähre, die zur Gefängnis-Insel führt. Luisa besucht dort ihren Mann, Paolo seinen Sohn. Lange sind die beiden schon unterwegs, diese letzte Etappe führt zu einer kleinen, Sizilien vorgelagerten Insel. Es gibt keine Mauer, die so sicher ist wie das Meer, hier bewegen sich die Häftlinge sogar                                                    im Freien.

 

Jedenfalls die normalen Häftlinge. Im hinteren Teil der Insel befindet sich der Hochsicherheitstrakt, der während der "bleiernen Jahre" in den 1970ern gebaut wurde.

Am Ende dieses Jahrzehnts spielt der Roman. 

 

Paolos Sohn ist ein Terrorist. Er hat mehrere Menschen per Kopfschuss hingerichtet. Luisas Mann ist ein Mörder.

Einen Kumpan ermordete er im Suff, in das Spezialgefängnis brachte ihn jedoch der Mord an einem Wärter.

Über zehn Jahre ist er schon in Haft, oft wurde er verlegt, viele Städte lernte die Bäuerin Luisa durch die Besuche bei ihrem Mann schon kennen.

So auch Paolo, der seinen Sohn allerdings erst seit gut drei Jahren besucht.

 

In dieser Zeit ist seine Frau Emilia vor Kummer gestorben, sie hat es nicht fassen können, was ihr Sohn getan hat.

Luisa hat in den zehn Jahren ihren Hof versorgt und die fünf Kinder groß gezogen - zwanzig ist die älteste Tochter nun.

 

Paolo und Luisa werden im selben Transporter zum Sicher-heitstrakt gefahren. Sie absolvieren ihre Besuche, sollen dann schnell zum Hafen zurückgebracht werden, da die Fähre pünktlich ablegen muss, ein Sturm zieht auf.

Als der Wagen verunglückt - den beiden passiert nichts - ist klar, dass sie es nicht schaffen. Sie sind die ersten Besucher, die auf der Insel übernachten müssen.

 

Der Direktor bestimmt, dass sie bei Pierfrancesco Nitti, einem Aufseher, und seiner Frau zu Abend essen und dann im "Glaspalast" schlafen sollen. Dies ist ein Euphemismus für ein heruntergekommenes Gebäude ohne Fenster mit nur einem Bett und ein paar Stühlen. Als Angehörige von Häftlingen sind sie per se verdächtig, wer weiß, was sie planen. Diesen Gedanken hat nur der Direktor, Nitti behandelt die beiden wie Gäste. Freilich muss auch er im Glaspalast übernachten, er darf sie nicht alleine lassen.

 

Soweit der Rahmen.

Ein guter Teil des Romans besteht aus den Erinnerungen Paolos und Luisas, sie bilden den tragenden Grund der gegenwärtigen Geschehnisse, Worte und Gedanken. 

 

Paolo erinnert sich an die Kinderjahre des Sohnes, an die jährlichen Ferien am Meer, die ihm in der Rückschau wie das Paradies vorkommen. Es ist Lehrer für Geschichte und Philo-sophie, ein überzeugter Anhänger des Humanismus und der Aufklärung. Er hat seinen Jungen für die soziale Frage

sensibilisiert, er hat den Samen gelegt für dessen späteren Kampf für die Revolution, so meint Paolo. Vermutlich hat er damit nicht Unrecht, doch das, was die bewaffneten Brigaden durchführen, ist keine Revolution des Volkes.

"Die Sache, die es (das Wort) bezeichnete, war nirgends zu erkennen. ... Was da geschah, wurde anders genannt: Gewalt. Und das Land beweinte deren Opfer. ... Im Grunde war es ganz einfach: Wenn Begriff und Tat zusammenfielen, wurde Geschichte gemacht. Aber wenn das Wort alleine stand, war es Wahnsinn. Oder Selbstbetrug. Mystifizierung."

 

Trotz allem, seiner Verzweiflung, seinem Unverständnis, seiner Trauer, Paolo besucht seinen Sohn wann immer er eine Genehmigung bekommt. Als eine ständige Mahnung trägt er jedoch ein Foto von einem kleinen Mädchen in seinem Portemonnaie. Es ist die dreijährige Tochter am Grab eines der Opfer des Sohnes. Also auch ein Opfer seines Sohnes, eines, das mit dem Verlust weiterleben muss.

 

Luisas Mann hatte keine politischen Motive. Er ist ein jähzorniger Mensch, eine Kostprobe davon bekam sie schon kurz nachdem sie ihn kennen gelernt hatte.

Dieses "Unheimliche" in ihm wurde im Lauf der Jahre immer stärker, heute würde man Luisa als Opfer häuslicher Gewalt bezeichnen. So groß der Schock seiner Verhaftung für sie war, es war nicht nur ein solcher:

"Erst in diesem Moment wurde Luisa bewusst, dass sie, solange ihr Mann in Haft war, das Bett nicht mehr mit

ihm teilen würde. Und eine unaussprechliche, dunkle Erleichterung überkam sie."

Ihn nicht mehr zu besuchen, ihm Pakete mitzubringen,

fällt ihr jedoch nicht mal im Traum ein. Er ist ihr Mann.

 

Dem ganzen Roman, der auch Themen wie Haftbedingun-gen, das politische Klima der Zeit, die Arbeitsbedingungen der Wärter und deren psychische Belastungen thematisiert - ganz konkret an Nitti - dem ganzen Roman ist das Thema der Nacht unterlegt. Die Intimität, die Freiheit, die Bedrohungen, die sie mit sich bringt.

 

Paolos und Luisas Nacht im Glaspalast, in der beide zu reden beginnen und sich zart berühren, was bei beiden Kaskaden an Emotionen auslöst und zum ersten Mal überhaupt das Gefühl, verstanden zu werden.

 

Die Überfahrt von der Hauptinsel zum Festland nach dem überstandenen Sturm in der folgenden Nacht.

Sie verbringen sie in einer Doppelkabine.

Es ist "eine Liebe auf hoher See", sie findet in einem Zwischen-Raum statt, sie ist ein Wunder.

Am Ende dieser Nacht nimmt Luisa das Foto des Mädchens an sich: "`Das werde ich jetzt bei mir tragen.´ Genau so sagte sie es. Nicht, das behalte ich, das verwahre ich, sondern das trage ich. So wie man es zu einem Gefährten auf einer Wanderung sagen würde, während man sich sein Gepäck für ein Stück Weg auflädt."

 

Pierfrancesco Nitti erzählte seiner Frau am Anfang der Ehe  in der Nacht ausführlich von seinen Tagen mit den Häftlingen auf der Insel. Dies schuf eine Zusammengehörig-keit, die im Lauf der Zeit verloren ging, weil Nitti immer stiller wurde. Das nächtliche Schweigen steht wie ein Eisblock zwischen den Eheleuten und schürt Maria Caterinas Angst - nicht vor, sondern um ihren Mann. Sie weiß zum Beispiel nicht, woher das Blut stammt, das er manchmal an der Uniform hat.

 

"Als Paolo seinen Sohn zum ersten Mal auf der Insel besuchte, hatte dieser ihm ein Geständnis gemacht.

Das Schlimmste am Gefängnis, der härteste Verzicht, das, was am schwersten zu ertragen war, sagte er, sei nicht die Nähe der fremden, elenden Körper. Auch nicht die Schikanen der Wärter. Oder die Gewalt, die Machtkämpfe und Verschwörungen unter den Häftlingen. Genauso wenig das fade Essen. Oder das Fehlen einer Frau. Das Verkümmern aller Gefühle.

`Es ist die Nacht´, hatte sein Sohn zu ihm gesagt, `es ist vor allem die Nacht, die mir fehlt."

 

 

Erzählen, Sprechen, Reden, sich erklären, um Verständnis werben, mit Worten, die nicht leer sind, sondern ihren Gegenpart in der Wirklichkeit haben, um Gemeinschaft ringen, nicht die hohlen Parolen einer Bewegung ausspucken, in der Nacht die Verbundenheit zu einem Menschen pflegen, mit Worten und liebevollen Gesten - dieses Geflecht breitet die große Geschichtenerzählerin Francesca Melandri in ihrem Roman über Menschen, die im, vom oder mit dem Gefängnis leben, aus.

 

An ihnen und ihren Leben ohne Fluchtmöglichkeiten, ohne die Ablenkungen, die ein `normales´ Leben bietet, lässt sich dies glasklar herausarbeiten, konzentriert in einem Drama, das an zwei Tagen und zwei Nächten spielt und ein ganzes Leben umfasst.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Francesca Melandri: Über Meereshöhe

Übersetzt von Bruno Genzler

Wagenbach Verlag, 2019, 208 Seiten

(Originalausgabe 2012)