Francesca Melandri - Eva schläft

Dieser in Südtirol spielende und mehr als sieben Jahrzehnte (oder drei Generationen) umfassende Roman setzt mit einem kurzen Prolog ein.

In diesem wird ein braunes Päckchen für die sechzehnjährige Eva bei ihr zu Hause abgegeben. Ihre Mutter Gerda nimmt es nicht an, sie meint zu wissen, dass Eva, die schläft, als der Postbote kommt, es nicht haben möchte.

 

Dieses Päckchen, das eine Kassette enthält, die von Vito besprochen wurde, erreicht Eva über zwanzig Jahr später, ganz am Ende des Buches. Es wird ihr überreicht, als sie Vito in Süditalien, in Reggio Calabria, also buchstäblich am letzten Zipfel des langgestreckten Landes, besucht.

Vito liegt im Sterben, er möchte Eva noch einmal sehen.

 

Die langen Stunden der Bahnfahrt von Bozen aus sind eine Zeit des Eintauchens in die Vergangenheit - der eigenen, der ihrer Mutter und Vitos und ganz tief auch in die Geschichte Südtirols.

 

Die 1964 geborene Autorin lebte über fünfzehn Jahre in diesem wunderschönen Landstrich, der für viele Menschen gleichbedeutend mit Urlaub ist. Egal, ob zum Wandern im Sommer oder Herbst, zum Skilaufen im Winter, wegen des frühen Frühlings in den südwärts gewandten Tälern, wegen den vielfältigen Museen, den prächtigen Hotels, der erlesenen Küche: die Aufzählung könnte fortgesetzt werden.

 

Kaum jemand verbindet mit dem Begriff "Südtirol" die

Worte Armut, Unterdrückung, Terrorismus.

Doch eine sehr lange Zeit war dieses Land genau davon geprägt. Von ihnen berichtet Melandri in Evas Geschichte, die in etwa das Alter ihrer Schöpferin hat.

 

Gerda (Evas Mutter) wird kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges in einer Kleinstadt in der Nähe Bozens geboren. Ihre Eltern Hermann und Johanna Huber gehören zu den "Rücksiedlern". Sie waren dem Ruf der deutschen Faschisten "Heim ins Reich" gefolgt und hatten für das Versprechen eines schönen Hofes auf deutschem Boden ihr Land in Südtirol verlassen.

Südtirol, das 1919 von Österreich abgetrennt und Italien zugeschlagen worden war, hatte eine harte Zeit der sogenannten Italianisierung und Assimilierung hinter sich.

Es war bei Strafe verboten, Deutsch zu sprechen (auch in der Familie), sämtliche administrative Angelegenheiten mussten von der Bevölkerung auf Italienisch erledigt werden - ein Ding der Unmöglichkeit und Quelle großen Hasses auf die Italiener, die als Besatzer empfunden wurden.

 

Süditaliener wurden im Alto Adige angesiedelt, Südtiroler bekamen keine Arbeit in Fabriken, in der öffentlichen Verwaltung sowieso nicht.

So hatten die meisten Bauern für ein Verlassen der Heimat gestimmt, die keine echte mehr war.

Bei den wenigsten wurde diese Umsiedlung in die Tat umgesetzt, schneller als erwartet endete das tausendjährige Reich.

 

Hermann und Gerda Huber kehrten mit ihren Kindern zurück (Gerda hatte zwei ältere Geschwister), doch ihr Haus war bewohnt von Italienern, sie selbst nicht nur staaten- sondern auch obdachlos. Sie bekamen ein schlechtes altes Haus am Rand des Dorfes, wo sie zusammen mit anderen Rücksiedlern wohnten, die Gegend hieß "Schanghai."

 

Hermann ist ein frustrierter und eiskalter Mann, der seine wichtige Rolle, die er unter Mussolini gehabt hatte, vermisst. Die Kinder wachsen in einem lieblosen Haus auf und Gerda ist nicht unglücklich, als sie mit sechzehn Jahren das Haus verlassen kann und in einem Meraner Hotel anfängt, als Küchenhilfe zu arbeiten.

 

Zeitlebens wird sie diese Arbeit - im Lauf der Jahre steigt sie zur Küchenchefin auf - ausüben.

Auch nach der Geburt ihrer unehelichen Tochter unterbricht sie die Arbeit nicht. Eva "wohnt" in einer Apfelkiste in der Küche. Als sie mobil wird und herauskrabbelt, muss eine Lösung gefunden werden. Gerda findet eine Familie für sie, bei der Eva zehn Monate im Jahr leben kann. Zwei Monate hat Gerda frei, die verbringt sie zusammen mit ihrer Tochter in einem möblierten Zimmer.

Obwohl es Eva in der Pflegefamilie gut geht, hört sie nie auf, auf ihre Mutter zu warten. Dieser Zustand ist für sie die tägliche Hoffnung und fast immer auch tägliche Enttäuschung.

 

Dieses uneheliche Kind hat Gerdas Mutter Johanna das Leben gekostet (ein Herzinfarkt), vom Vater wurde sie daraufhin aus dem Haus gejagt. Ihre Schwester lebt in der Schweiz, der Bruder Peter ist zwar verheiratet, taucht aber nur ab und zu kurz bei seiner Familie auf. Sein eigentliches Leben gehört dem Befreiungskampf Südtirols. Peter glaubt daran, dass seine Heimat mit Bomben und Granaten befreit werden könne. Vermutlich gehen Morde auf sein Konto, bis er selbst zum Opfer wird.

 

Die wunderschöne Gerda, verehrt und begehrt von vielen Männern, verliebt sich in Vito Anania. einen jungen Carabiniere, der im fernen Norden seinen Militärdienst ableisten muss. Vito, der Eva ein wunderbarer Vater ist,

und Gerda wollen heiraten.

 

"Entweder sie oder wir."

Das ist die Reaktion von Vitos Mutter.

"Sie: Das waren Gerda und Eva. Wir: Das war sie selbst, aber auch alle Verwandten und jeder einzelne Bewohner ihrer Stadt, ja ganz Kalabriens."

Gerda, das war die "Schwester eines Terroristen und ledige Mutter" - in Vito und Gerda standen sich nicht nur zwei Menschen gegenüber, sondern zwei Welten.

 

In der Unmöglichkeit zu heiraten kulminieren die Schwierigkeiten der Zwangsehe Südtirol-Italien.

Gerda begreift, dass Vito auf Dauer ein Leben in Tirol, ohne sein eigenes Land, seine Sprache, seine Lebensart nicht aushalten würde. Die Ehe mit ihr würde ihn von seinen Wurzeln abschneiden.

Sie zieht sich zurück und raubt damit auch Eva jenen Mann, den diese als ihren Vater ansieht.

 

Dem Leser ist früh bekannt, dass Vito die Mutter verlassen hat, so sieht es Eva, da sie die Umstände nicht kennt.

Das Buch ist unterteilt in Kapitel, die abwechselnd Jahreszahlen bzw Kilometerangaben sind.

Es beginnt mit "1919" und "km 0", schreitet fort über "1925-1961" und "km 0-35" (das ist der längst Zeitabschnitt, meist betragen diese nicht mehr als zwei Jahre) und setzt sich fort bis "1992" und "km 0-heute" hier kommen Zeit und Ort zusammen.

 

Durch diesen Wechsel von persönlichen Erinnerungen und Berichten aus der Geschichte, die durchweg historisch genau sind, ergibt sich eine abwechslungsreiche Geschichte, die nicht den Eindruck aufkommen lässt, man lese einen geschichtlichen Essay.

Das Buch ist Roman und Geschichtsbuch in einem.

Der eine oder andere Leser erinnert sich an die Anschläge auf Strommasten der sogenannten "Bumser", die jenen  Aktivisten vorausgingen, die auch Tote in kauf nahmen. 

Aber dass es im Bozener Gefängnis Tote nach Folterungen gab, ist vielleicht weniger bekannt.

Legendär ist die "Feuernacht" 1961, aber wer erinnert sich an die Verbindungen zu neonazistischen Gruppen der "Befreier" Südtirols in den 80er Jahren?

 

Das Leid der deutschsprachigen Bevölkerung wird erlebbar gemacht, aber auch die Schwierigkeiten der Italiener, als das Pendel in die andere Richtung ausschlug und plötzlich zur weiteren Ausübung des Berufes der Nachweis erbracht werden musste, dass man Deutsch beherrscht.

 

In Gerda und Vito kamen die nördlichste und die südlichste Region Italiens nicht zusammen. Eine Generation später sieht es zum Glück anders aus - was nicht heißt, dass es so bleiben wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Francesca Melandri: Eva schläft

Übersetzt von Bruno Genzler

Wagenbach Verlag, 2018, 440 Seiten

(Originalausgabe 2010)