Ian McEwan - Die Kakerlake
Jim Sams, Held der Politsatire "Die Kakerlake" erwacht eines morgens in einem Bett. Zunächst erinnert er sich nur undeutlich daran, wie er dorthin kam, schuld an seiner anfänglichen Verwirrung ist nicht nur die leere Flasche auf dem Tischchen. Er stellt jedoch schnell fest, dass er "im Gunde seines Wesens noch er selbst" ist.
Ein ekliges Insekt also.
Gregor Samsa, Hauptfigur der Erzählung "Die Verwandlung" von Franz Kafka aus dem Jahr 1912, ist Vorbild oder Pate des Jim Sams. Doch bei Gregor Samsa verlief die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung: dieser Mann verwandelte sich urplötzlich in ein Insekt, konnte und durfte sein Zimmer nicht mehr verlassen, verkümmerte und verhungerte schließlich. Aus dem Ernährer der Familie wurde einer, der gepflegt werden musste - diese Aufgabe übernahm anfangs noch seine Schwester, doch auch diese wandte sich bald von ihm ab.
Mit der Verwandlung als solche erschöpfen sich die Parallelen der beiden Erzählungen jedoch. Während Kafkas Stück eine tiefsinnige Studie der Psyche und des sozialen Umfeldes des Gregor Samsa ist, beschreibt McEwan einen polternden, egoistischen und machtbesessenen Mann, hervorgegangen aus dem Inbegriff des Schmutzes.
Die Kakerlake, die mit "Abermillionen" ihresgleichen seit Ewigkeiten "hinter den Palastpaneelen und unter den Bodendielen Sicherheit und Trost" findet, hat sich über Nacht in den Premierminister Großbritanniens verwandelt.
Unverkennbar handelt es sich um Boris Johnson.
Zwar fällt kein einziges Mal das Wort Brexit, doch um diesen handelt es sich. McEwan spricht von "Vordrehern" und "Rückdrehern", von "Reversalismus", der geldgierige amerikanische Präsident heißt hier Archie Tupper, die Bundeskanzlerin taucht auf - McEwan spielt mit den Gegebenheiten, die er nach Belieben auf links dreht oder aber mächtig übersteigert.
Jim Sams hat natürlich einen Gegenspieler, der eine kleine Revolte anzettelt, dafür jedoch eine saftige Quittung bekommt. Es gibt einen Berater, der Selbstmord (?) begeht.
Es fehlt nicht der Zwist mit dem Nachbarn Frankreich ("In schwierigen Zeiten wie diesen brauchte das Land einen verlässlichen Feind"), den Sams zu Gunsten seines Landes löst. Es gibt die ergebene Assistentin, die ihren Chef perfekt versteht und auch der "postleninistische" Oppositionsführer und der berühmt gewordene Speaker fehlen nicht - alle Zutaten sind da.
Kernstück der Satire ist der sogenannte "Reversalismus",
das bedeutet, dass der Geldkreislauf umgekehrt wird.
Fürs Arbeiten muss bezahlt werden, fürs Einkaufen wird man "großzügig entschädigt", Geld "horten ist gesetzlich untersagt."
Was für eine unglaubliche Steigerung des Konsums, traum-hafte Wachstumsraten...
"Er wollte einzig und allein den Reversalismus durchsetzen, diesem Ziel diente er mit jeder Faser seines Körpers, genau wie er es im Parlament versprochen hatte. Der Reversalismus nahm ihn derart in Beschlag, dass er kaum noch wusste, warum und wozu." Jim Sams ist nun "ganz er selbst", er genießt "in vollen Zügen die Freuden der Politik in ihrer reinsten Form: der Durchsetzung von Zielen mit allen verfügbaren Mitteln."
Die Idee des Reversalismus scheint ähnlich vernünftig zu sein wie der Versuch, dass Wasser dazu zu bringen, bergauf zu fließen - aber um Vernunft geht es nicht, es geht um Macht. Diese Ränke und Verschränkungen, Umkehrungen all dessen, was mit Verantwortung, Ethik, Gemeinwohl oder Solidarität zu tun hat, dafür steht die Kakerlake Jim Sams.
Er ist ein Politiker der neuen Art, er repräsentiert die Gegenwart. Die Kakerlaken lernten ihr Geschäft hinter den Holzpaneelen des Westminster-Palasts, sie haben gut zugehört und begriffen, wie es geht.
Literarisch ist dieser Roman nicht der beste, den McEwan geschrieben hat. Es gibt Ungereimtheiten, manche Fäden laufen ins Leere, stellenweise ist er sehr plakativ.
Doch hier geht es nicht um Feinzeichnung und Ausgewogen-heit, es geht darum, ganz klar und deutlich heraus zu arbeiten, wie Politik gemacht werden und wie sie funktio-nieren kann. Was der Wähler bereit ist zu akzeptieren.
Indem er den realen Boris Johnson in der Figur des Jim Sams auf die Spitze treibt und deutlich macht, was er von ihm und seinen Spießgesellen hält, kann er einen Wahn beschreiben, der Realpolitik genannt wird. Das ist McEwan gelungen!
Ian McEwan: Die Kakerlake
Übersetzt von Bernhard Robben
Diogenes Verlag, 2019, 144 Seiten