Victor Margueritte - La Garçonne

"Sie müssen sich schon an den Gedanken gewöhnen und mich als das nehmen, was ich bin: eine Garçonne." Als Monique Lerbier diesen Satz ausspricht, befindet sie sich bereits in einem neuen Lebensab-schnitt. Als Kind reicher Eltern sollte sie einen standesgemäßen Mann heiraten - doch nach einer tiefen Enttäuschung weigert sich Monique. Sie verlässt die Familie, stürzt sich in das Pariser Leben

der Zwanzigerjahre, bis sie auch dessen                                            überdrüssig wird.

 

Moniques Vater ist während des Krieges mit Chemikalien groß geworden. Nun will er in die Produktion von Dünger einsteigen, das verspricht riesige Gewinne. Doch ihm fehlt momentan das nötige Kapital, um seine Erfindung vermarkten zu können.

Moniques Mutter ist eine vergnügungssüchtige Frau von fünfzig Jahren, die nur ein Ziel hat: sie möchte aussehen wie dreißig. Konventionen sind für sie Gesetze, niemals hat sie ein herzliches Verhältnis zu ihrer Tochter entwickelt.

 

Mit zehn Jahren wurde Monique zu ihrer Tante Sylvia in Pension gegeben. Die Schwester ihrer Mutter hat einen völlig anderen Charakter: sie leitet ein Pensionat, kümmert sich um benachteiligte Kinder, diskutiert mit dem Philosophen Vignabos und der Frauenrechtlerin Madame Ambrat über soziale und politische Themen der Zeit.

 

Schon immer liebte Monique ihre Tante Sylvia, war im Geiste deren Tochter, die Eltern blieben Fremde für sie.

 

Mit zwanzig Jahren soll Monique heiraten: den Industriellen Lucien. Sie liebt ihn von Herzen, gibt sich ihm schon vor der Hochzeit hin, erwartet aber eines von ihm: unbedingte Ehrlichkeit. Als sie erleben muss, dass er sie belügt, weigert sie sich, ihn zu heiraten. Und sie versteht auch, dass sie "im besten Wortsinn eine Kapitalanlage ... ein wertvolles Handelsobjekt" ist, für ihren zukünftigen Ehemann "nur eine Zugabe" zu einem lohnenden Geschäft.

 

Nach einem Streit mit ihrem Vater geht sie. Freiwillig, hinauswerfen muss er sie gar nicht mehr. Sie ist willens, alleine zurecht zu kommen.

"Ich brauche euch nicht, ich brauche überhaupt niemand! Ich werde arbeiten und mir mein Leben selbst verdienen!"

 

Ein weiterer Schlag trifft Monique hart, doch sie schafft es, sich aus einer tiefen Depression zu befreien.

Sie eröffnet ein Dekorationsgeschäft, betätigt sich als Innenarchi-tektin und macht sich einen Namen.

Sie verdient viel Geld, ist unabhängig, verkehrt wieder in den besten Kreisen und fühlt doch eine innere Leere, die weder mit sinnlichen Genüssen noch durch das Rauchen von Opium gefüllt werden kann. Ihr Kinderwunsch bleibt unerfüllt, sie trifft sich mit den Freundinnen ihrer Jugend - allesamt verheiratete Frauen, die in Saus und Braus, Lug und Trug leben.

Monique hatte immer anständig bleiben wollen.

 

"Zerschlagen vom Absturz, der auf ihren vermeintlichen Aufstieg gefolgt war", begegnet sie dem Schriftsteller Régis Boisselot wieder. Diesen hatte sie vor Jahren bei Professor Vignabos kennen gelernt. Er erscheint wie der Retter in und aus der Not.

 

Der dritte und letzte Teil des Romans (nach "Das Widerstreben" und "Die Aussteigerin") trägt die Überschrift: "Der Leichenwagen der Liebe".

Da es im wesentlichen von der Beziehung der beiden am Anfang sehr Verliebten handelt, ist sogleich klar, wie diese Liebe endet. 

Boisselot schafft es nicht, von der Vergangenheit Moniques als Garçonne abzusehen. Er ist eifersüchtig auf all die Liebhaber vor ihm, für ihn ist sie schließlich nichts besseres als eine "Hure". 

 

Die Situation spitzt sich dramatisch zu. Im Garten der Madame Ambrat - Moniques Fels in der Brandung - kommt es zu einer wüsten Szene, die jedoch wie ein Befreiungsschlag wirkt und Monique das schenkt, wonach sie ihr Leben lang gesucht hat:

die Liebe.

 

 

 

Victor Margueritte (1866-1942) war ein überzeugter Pazifist und Verfechter der Gleichberechtigung. In Theaterstücken, Zeitungs-artikeln und Romanen stellte er die Frage:

"Wann wird es endlich gleiche Rechte und Pflichten für alle menschlichen Wesen geben? Eine einzige Moral, eine einzige Gerechtigkeit?" (so im Nachwort zu lesen).

 

Der Roman löste einen Skandal aus, der den Schriftsteller die Mitgliedschaft in der Ehrenlegion kostete. Doch er fand seinen Weg zu den Lesern, wurde schnell zu einem in viele Sprachen übersetzten Bestseller. 

 

 

Mit der Lebensgeschichte Moniques thematisiert Victor Margueritte das unmoralische, unsolidarische und allein auf Gewinn ausgerichtete Handeln der Vermögenden.

Er beschreibt die unterschiedlichen Maßstäbe, die an das Verhalten von Männern und Frauen angelegt werden.

Er geht sehr tief auf die Vereinsamung eines Menschen ein, der sich eine sinnvolle Aufgabe wünscht, aber überall nur auf hohle Versprechungen und Menschen, die sich nur für das eigene Wohlbefinden interessieren, trifft.

Die durchtanzten Nächte, die ausschweifenden  Liebesabenteuer, schließlich die Betäubung durch Drogen können nicht die echte Nähe eines Menschen ersetzen.

 

Victor Marguerittes Plädoyer für eine freie Liebe, für Ehen, die auf Liebe fußen, für Freundschaften wie die der Madame Ambrat oder des Professors Vignabos´, die für Monique zur Familie werden, weil das Verhalten, die Rechtschaffenheit dieser Menschen mehr zählt als biologische Bande, beschreibt die `Geburt´ der neuen Frau mit all den damit verbundenen Schmerzen. 

 

 

Seine Forderungen und Gedanken kleidet er in einen interessanten, angenehm zu lesenden Roman, der sowohl von

der Handlung als auch der psychologischen Tiefe lebt.

Herkunft, Ablösung und Selbstfindung einer intelligenten Frau,

die schon als Kind nach Aufrichtigkeit, Unabhängigkeit und Liebe suchte sind schlüssig beschrieben - mit großer Sympathie für diesen taumelnden Menschen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Victor Margueritte: La Garçonne

Übersetzt von Joseph Chapiro

Neu bearbeitet von Sophia Sonntag

ebersbach & simon, 2020, 304 Seiten

(Originalausgabe 1922)