Una Mannion - Licht zwischen den Bäumen
Es ist der letzte Schultag, die Sommer-ferien stehen bevor. Das sollte ein Grund für Freude und gute Laune sein.
Nicht jedoch für Libby und ihre vier Geschwister, die im Auto der Mutter sitzen und von der Schule nach Hause fahren. Im Auto herrscht dicke Luft, die sich zu einem Streit auswächst. Bis die Mutter die zwölfjährige Ellen kurzerhand auffordert, auszusteigen. Neun Kilometer entfernt von ihrem Haus, vor Ellen liegt ein Weg durch den Wald, es dämmert bereits.
Ellen hat eine große künstlerische Begabung. Eine Lehrerin hat sie für ein Kunstcamp während der Ferien vorgeschlagen, die Mutter ist dagegen. Sie ist alleinerziehend, arbeitet im Krankenhaus, verbringt ihre Zeit zu Hause hauptsächlich in ihrem Zimmer mit geschlossener Tür. Der Zustand des Gartens ins desolat, die Höhe des Grases scheint ein Zeichen für das Zurechtkommen einer Familie mit dem Leben.
Das Gras der Gallaghers ist sehr hoch.
In der Familie Gallagher gibt es diverse Themen, die nicht angesprochen werden dürfen. Ganz oben auf dieser Liste steht der verstorbene Vater. Die Eltern waren schon geschieden, die jüngste Tochter Beatrice, sieben, ist von einem anderen Mann, als der Vater in New York an einer Blutvergiftung starb. Sein Tod hinterließ eine tiefe Wunde in der fünfzehnjährigen Libby, aus deren Sicht der Roman erzählt ist. Und auch Schuldgefühle, weil sie ihm nicht hatte beistehen können, er völlig alleine in der fremden Stadt starb.
Nach New York war der Vater gezogen, um dort zu arbeiten. Die Mutter und die Kinder blieben auf dem Land in Penn-sylvania zurück. Regelmäßig trifft sich die Mutter mit ihrem Liebhaber Bill, zu diesen Treffen nimmt sie immer Beatrice mit. Alle anderen Geschwister haben diesen Bill noch nie gesehen, er ist eines der gut gehüteten Geheimnisse der Mutter.
Der Streit im Auto war eskaliert, nachdem Ellen gebrüllt hatte:
"Du hasst uns! ... Dad hast du auch gehasst, und ich hasse dich! - Bei der Erwähnung unseres Vaters blieb uns allen die Luft weg. Vor unserer Mutter sprachen wir nie über ihn."
Marie, die in den Ferien ihren achtzehnten Geburtstag feiern wird, diejenige ist, die sich um alle kümmert und immer eine Lösung weiß, der nur ein Jahr jüngere Thomas, der sich fast vollständig in sein mit einem Sternenhimmel geschmücktes Zimmer zurückgezogen hat, Libby und Beatrice bleibt nicht anderes, als zu warten. Bis Ellen kommt, den Weg kennt sie.
Libby muss abends zu Mrs. Boucher, auf deren beide Söhne sie aufpasst, während diese ausgeht.
Dort taucht spät am Abend Ellen auf. Zerschrammt, kaputt, verweint, verzweifelt. Sie erzählt ihrer Schwester, was unterwegs passiert ist.
Klar ist vor allem eines: die Mutter darf es niemals erfahren.
Alleine dafür, dass sie versuchte zu trampen, würde sie Ellen umbringen.
Der Respekt vor den Verboten der Mutter und den diversen Schweigegeboten in der Familie ist größer als der Wunsch, sich anzuvertrauen und um Hilfe zu bitten.
Dieser Vorfall setzt eine Kaskade an Folgen in Bewegung, die die Geschwister nicht mehr kontrollieren können.
Dieses eine Geschehnis rüttelt nicht nur die Gallaghers gründlich durch und verändert alles, es zieht seine Kreise in die Familie der besten Freundin Libbys hinein.
Mit ihr, Sage, hätte sie am liebsten die ganzen Ferien in ihrem selbstgebauten Lager im Wald, dem sogenannten "Königreich" verbracht, dort geplaudert, geraucht, gechillt.
Stattdessen kommt es zu weitern Komplikationen und einem dramatischen Showdown auf dem Hof eines Freundes Maries, der seine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit hat. Dem beherzten Eingreifen Libbys, Thomas´ und dem rechtzeitigen Eintreffen der Polizei hat er zu verdanken hat, dass er noch einmal davonkommt, wenn auch mit einigen Blessuren.
Der Coming-of-Age-Roman ist spannend wie ein Thriller.
Die Handlung nimmt immer wieder überraschende Wendungen, die Figuren sind einfühlsam und individuell gezeichnet. Neben dramatischen Szenen gibt es rührende Momente wie der Fund einiger Tonbänder in einem alten Koffer, die die Familie an Silvester 1972 aufgenommen hat, die jetzt neun Jahre alt sind. Sie hören die Stimme des Vaters, alle Geschwister stellen sich vor - nur die Mutter ist nicht zu hören.
Die Themen Loyalität, Schuld, Liebe und Hass werden in diesem bewegenden Roman durchdekliniert, aber auch die Frage: Wie sehr untergräbt Schweigen das Leben, wie entsteht Vertrauen?
"Ich wünschte, ihr hättet genug Vertrauen zu mir, um mir solche Dinge zu erzählen."
So schlicht drückt es die Mutter aus, nachdem fürs Erste alles überstanden ist. Um sich danach ins Autor zu setzten und zurückzufahren an den Ort, an dem sie mit Bill Urlaub macht.
Für die Geschwister endet mit diesem Sommer 1981 ihr gewohntes Leben, für Libby endet definitiv ihre Kindheit.
Solange sie noch in ihrem Haus am Berg wohnen, versucht sie, ein wenig Normalität herzustellen:
"Im Lichtkreis der Außenlampe kniete ich mich auf den Boden und fing an, das Gras zu schneiden."
Una Mannion: Licht zwischen den Bäumen
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Steidl Verlag, 2021, 344 Seiten
(Originalausgabe 2021)