Michael Maar - Die Schlange im Wolfspelz

Das Geheimnis großer Literatur

Bereits kurz nach Erscheinen wurde das Buch zum Bestseller - es könnte ein Klassiker werden für leidenschaftliche und professionelle Leser.

Es geht einer nicht zu beantwortenden Frage nach - Was macht aus Literatur große Literatur? - alleine die Beschäfti-gung mit dieser Frage führt tief in die Literatur, ihre Produzenten  und Protagonisten und gibt, wenn nicht                                                         DIE, dann viele mögliche Antworten.

 

Im ersten Kapitel untersucht Michael Maar den Stil.

"Was ist das Geheimnis des guten Schreibens, des guten Stils?" Wie verhalten sich Form und Inhalt zueinander?

Wie wichtig sind Gedankenklarheit, Klang und Rhythmus, kluge Einfälle (sie sind die "kleine überraschende Abschweifung vom protokollierten Weg"), ist es neu, was wir da lesen?

 

Ausgehend von diesen allgemeinen Überlegungen, die aber schon reichlich mit Beispielen unterfüttert sind, begibt sich der Autor in den "Weinberg", so die Überschrift des zweiten Kapitels.

 

Hier beginnt er mit der Zeichensetzung. Kaum zu glauben, wie individuell diese gehandhabt wird, wie sie zum Erkennungszeichen eines Autors werden kann. 

Er schreitet fort zum einzelnen Laut, zum Wort - Verben, Beiworte, Hauptworte - und kommt dann erst zum ganzen Satz, gefolgt vom Rhythmus.

 

Hierauf  werden die "Instrumente" gezeigt (Kapitel 3): Metaphern, Wiederholungen, Dialoge, Kunstfehler und "Donnerworte".

 

Die Aufzählung soll zeigen, dass hier nicht über etwas theoretisiert wird, hier wird nicht erst an der Wurzel, sondern schon an der Bodenbearbeitung Hand angelegt.

 

Einen solch verschrobenen Satz würde Michael Maar sicher nicht durchgehen lassen - dabei ist er herrlich tolerant.

 

Er stellt keinen Kanon auf, das tut er auch nicht in seiner umfangreichen "Bibliothek" (Kapitel 4), die aus fünfzig Porträts besteht.

Beginnend mit der Klassik Schillers und Goethes, über Grimms Märchen und die Romantik, wandert er ins 20. und 21. Jahrhundert bis zu Wolfgang Herrndorf und Clemens J. Setz.

 

Er untersucht einzelne Autoren , das liest sich beispielsweise so:

 

Zu Theodor Storms "Schimmelreiter":

"Das leicht Zwanghafte an Storm, das Hypochondrisch-Halbverklemmte bei beträchtlichem libidinösen Unterstrom, hat eine künstlerisch bedenkliche Folge. Die Subtexte quellen über. Aber die Novelle benetzt kein Tröpfchen Humor."

 

Bezogen auf Thomas Manns "Herr und Hund":

"Daß niemand so spricht, ist hier kein Einwand, zumal Thomas Mann tatsächlich so hätte gesprochen haben können: Es ist genau der Höhenunterschied zwischen dem sachlich Verhandelten und der solennen Stilebene, aus der die Ironie ihren Schwung bezieht. Welcher rhetorische Aufwand für einen räudigen Hund!"

 

Auf die nicht wegzudenkenden Österreicher und jüdische Schriftsteller geht er unter der Überschrift "K. u. K." ein:

 

Zu Kafka:

"Seine Atmosphäre läßt sich imitieren, aber die eigentliche Sprache kaum. Schlank, altmodisch und leicht k.u.k.-bürokratisch gefärbt ... fast auf jeder Seite von zarter untergründiger Komik, mit kleinem Wortschatz und grosso modo fremdwortfrei, ohne erkennbare Tics, ... Man schlage irgendwo auf, man wird auf nichts anderes stoßen als auf unprätentiöse Prosa, aus der sich ab und zu ein kühnes Bild erhebt wie der Phönix aus dem Aschgrau des Prager Amts-stubendeutschs."

Ist das nicht herrlich?

 

Ein Beispiel aus dem "Kürzestausflug: Lyrik", welcher vor allem ein Plädoyer für die moderne Lyrik ist:

"Rinck hat, wie Grünbein und Wagner, den genauesten Sinn für das leicht verkantete Wort, für Rhythmus, Silbenmaß und Klang. Die letzte Zeile - "Denn wüsstest dus, schon blühtest auf mit mir wie Algen " (Monika Rinck) - könnte auch bei Hölderlin stehen, hätte er im Neckar auch blühende Algen gesehen. Die Jungen kennen ihre Alten, keine Sorge."

 

Liebes- und Sterbeszenen, die schwierigsten Unterfangen in der Literatur, runden das Buch ab, hier gibt Michael Maar noch einmal alles.

 

Hier findet sich auch der Satz, der für das gesamte Buch gilt:

 

"Er (der genuine Stilist) sollte die Regeln beherrschen, aber er darf mit ihnen spielen wie mit Katzen, die man kraulen und auch wieder von der Schulter schubsen kann."

 

Ausgewogenheit, Balance, gekonnte Verdrehung, Kippung, viele Adjektive oder gar keine - man darf alles, man muss es nur können!

 

Um dieses Können geht es. Micheal Maar zeigt, wie es gehen kann. Vom kleinsten Teil, dem Buchstaben bis zum großen Ganzen, dem kompletten Roman oder Gedicht.

Er zeigt es witzig, überraschend, lehrreich. Mit unendlich vielen Beispielen.

Er zeigt es nachvollziehbar, illustriert er doch das, worum es ihm geht, gerne im passenden Stil.

 

"Haben wir die Schlange aus ihrem Wolfspelz geschält, haben wir das Geheimnis der großen Literatur enthüllt?

Natürlich nicht. Wenn es sich enthüllen ließe, wäre es kein Geheimnis mehr. Vielleicht haben wir durch Beispiele guten Stils die Empfindlichkeit gegen schlechten erhöht?

Das wäre immerhin schon etwas."

 

 

Michael Maar gelingt es in jeder Zeile zu fesseln. 

Hier trifft sich große Kenntnis mit der Gabe, Wissen so zu präsentieren, dass es geteilt und von den LeserInnen mit Genuss aufgenommen werden kann. 

Ein Essay im besten Sinne des Wortes: eine geistreiche Abhandlung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz - Das Geheimnis großer Literatur

Rowohlt Verlag, 2020, 656 Seiten

 

 

 

Ach ja, zwei knifflige Literaturquiz gibt es auch noch als Zugabe, einen umfangreichen Anhang sowieso