Émilie de Turckheim - Popcorn Melody

Tom S. Elliott und Emily Dickinson - nein, nicht die beiden großen Literaten - sind die Hauptpersonen dieses Buches. Es spielt in the middle of nowhere, in Shellawick, in der Wüste von Tahoneck. Dort gibt es Unmengen von schwarzen Steinen, Hitze, Staub, viel Dry Corny, ganz viel Langeweile und unheimlich viel Mais.

 

 

Und es gibt nur einen Arbeitgeber: Buffalo Rocks, eine Popcornfabrik.

Jeden Morgen steigen die Arbeiter in das sogenannte "Passagierschiff," d.h., den Bus, der sie in die Fabrik bringt. Dort arbeiten sie unter sehr harten Bedingungen für wenig Lohn. Wer versucht, sich gewerkschaftlich zu engagieren, fliegt raus, nicht ohne vorher eine ordentliche Abreibung erhalten zu haben.

 

Der Bürgermeister von Shellawick scheint auch nur eine echte Aufgabe zu haben: den Handlager für Buffalo Rocks zu spielen. Dieser Aufgabe kommt er gerne nach.

Und beschleunigt damit den Niedergang des Eintausend-einhundertseelenortes. Eine wichtige Einrichtung nach der anderen verschwindet, so z.B. das Bowlingcenter, an dessen Stelle ein riesiger Supermarkt errichtet wird.

 

Er steht genau gegenüber von Tom Elliotts kleinem Laden,

in dem es die wichtigsten Dinge gibt, die der Mensch braucht.

Etwas zu essen, etwas zum Waschen und etwas gegen die Fliegen.  Das ist seine persönliche "Trilogie des Glücks."

Weil es in seinem Laden schon immer eine eingeschränkte Auswahl gab - er nahm damit seinen Kunden die Qual der Wahl - nannte er seinen Supermarkt bald "GLÜCK".

 

Und glücklich sind damit viele Menschen.

Denn in dem Laden steht auch der alte Barbierstuhl seines Vaters. Dieser hatte dort Jahrzehnte lang rasiert und zugehört und seine ganz persönlichen Lebensweisheiten entwickelt. Nun ist Tom derjenige, der zuhört, der Barbierstuhl ist "das Ohr von Shellawick", er ist ein Beichtstuhl. Die Kunden kommen eher, "um etwas loszuwerden" als "um etwas mitzunehmen."

 

Tom sollte eigentlich den Staub und die Hitze der Kleinstadt verlassen. Er hat Literatur studiert.

Doch danach kommt er zurück.

Nun ist er ein Ladenbesitzer, der ein Buch nach dem anderen mit Haikus füllt - jeder Kunde inspiriert ihn zu einem Gedicht. Das ist seine Art, mit der Langeweile umzugehen und sich gegen all das zu wehren, was die Wüste, der Mais und die Fabrik den Menschen aufbürden.

 

Diese Gedichte, sowie der Roman, an dem er sich versucht - "Leben und Tod eines Supermarkts" - zusammen mit ungeheurem Humor und Selbstironie, sind das, was Tom in der Steinwüste überleben lässt.

 

Dabei helfen ihm Matts, sein alter Lehrer. Larry, der Totengräber. Seine Eltern, nach dem Selbstmord des Vaters nur noch die Mutter, ein Vollblut. Es helfen "die Königin der Maiskrapfen", die Tatsache, dass er das "Popcorn Kid" ist (sein "Charakterkopf" ziert bis in die Gegenwart alle Popcornpackungen und die Shootings damals brachten ein wenig Geld - gerade genug, um den Laden zu eröffnen).

Es hilft ganz existentiell der Literaturagent Dennis Mahoney und es hilft mit einem unerwartet ausgeschütteten Füllhorn Okomi.

 

Okomi taucht auf der allerersten Seite betrunken und verschwitzt in Toms Laden auf. Er bestellt einen Song.

Einen, der von Fabrikarbeit handelt, ohne lalala.

Um Tom zu überzeugen kommt ein Messer zum Einsatz.

Verletzt wird niemand, aber das blitzende Metall ist dem Anliegen Okomis förderlich.

Tom willigt ein. Er schreibt die "Popcorn Melody".

 

"Es wurden vier Strophen und ein Refrain. Okomi riss die Seite aus dem Telefonbuch, knüllte sie in seiner Faust zusammen und stopfte sie sich in die Tasche. ...

"Ich sag nicht Danke." Und wirklich ging er, ohne sich zu bedanken oder wenigstens eine Dose Kansa-Cola oder Bziter-Fliegenstreifen zu kaufen."

 

Als Tom später, das Wasser steht ihm schon am Mund,

eine Belohnung bekommt, wird er nicht etwa "tukanös."

Er wird auch kein "Blumenverkäufer", das sind regionale Ausdrücke für "eitel" und "verrückt." 

Er nutzt seine neuen Möglichkeiten, um Buffalo Rocks vor Augen zu führen, dass es Würde gibt, Recht und Unrecht.

 

 

Wo in aller Welt ist Emily Dickinson, das wunderbar langsame, füllige, köstliche Mädchen geblieben, von der als zweite Hauptperson die Rede war? 

Das ist eine ganz besondere Liebesgeschichte. 

Sie ist eingebettet in die Komplikationen um Supermarkt und "GLÜCK", um Werbespots und Schauspielerei, um Skorpione und eine in den Tod getriebene Mutter.

 

In Emily kristallisiert sich als Geschichte in der Geschichte noch einmal das ganze Elend der amerikanischen Provinz. Angefangen bei der Zwangsinternierung indigener Kinder und Verbot ihrer Muttersprache. Gezahltes Schweigegeld für einen Unfall ihrer Mutter Nancy, eine lächerliche Summe,

die der Dorftratsch unendlich aufgeblasen hatte. 

Der Leser begleitet sie bis in ein Filmstudio, das große Hoffnungen in ihr weckt, die Verlockungen der Moderne.

Kaum vorstellbar, dass Emily diesen gewachsen ist.

 

Der Roman endet mit einem Traum.

"Ich kann überall leben; den Schuttfuß werde ich trotzdem immer in mir tragen. Dabei spreche ich nicht von der Landschaft, der flachen Ödnis und dem schwarzen Glimmer, sondern von meinem Bedürfnis nach Trost. Weil es so traurig ist ohne Bäume, ohne Träume und ohne mögliche Familie, weil ich zu spät gekommen bin, nach dem Ende der Geschichte, nach den Mythen, den Liedern und den Menschen. Weil ich mich für mein zahmes Leben schäme, dafür, dass ich meine Haut nicht retten kann, mir das Fell über die Ohren ziehen lasse, mein Glück nicht anderswo versuche, auf den verbrannten Knochen der Altvorderen überlebe und ewig auf den Frühling warte."

 

Der Roman ist bevölkert mit liebenswerten, hassenswerten, allesamt leicht verrückten Personen, die wie Tom Trost suchen. Die Sprache ist frisch und voller Wortschöpfungen, die sich durch ihren Klang selbst erklären.

Was könnte ein "Lull" sein? Richtig.

Tom ist keiner. Sein humorvolles Kämpferherz verbietet jedes Mitleid.

Das hat er nicht nötig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Émilie de Turckheim: Popcorn Melody

Übersetzt von Brigitte Große

Wagenbach, 2017, 208 Seiten

(Originalausgabe 2015)