Verena Prantl - Glas

"Die Angst war nicht real. Sie war nur in ihrem Kopf. ... Es hatte sich so real angefühlt. So real." Dass die Angst nicht real ist, sondern nur im Kopf existiert, taucht wie ein Mantra in verschiedenen Varianten immer wieder auf in dieser Geschichte, die von Eva erzählt. Sie ist Anfang zwanzig, lebt alleine in einem geerbten Haus mit Garten, schreibt, trifft sich dann und wann mit Mirjam, ihrer Freundin, die so anders ist als Eva. Die alles hat, alles richtig macht, gesehen und geschätzt wird, überall Aufmerksamkeit erfährt, ganz im Gegensatz zu Eva, die von ständigen Selbstzweifeln geplagt wird.

 

Zunächst stellt sich die Frage, ob etwas nur dann real ist, wenn man es anfassen kann oder wenn es körperlich fühlbar ist. Was bedeutet "nur im Kopf?" Eva spürt die Angst, die sie regelmäßig überfällt auch körperlich. Sie bekommt kaum noch Luft, ihr wird schlecht, sie weist Symptome einer Panikattacke auf.

 

Dann fühlt sie sich schuldig. Eigentlich müsste es ihr doch gut gehen, warum kann sie nicht so sein, wie man es von ihr erwartet?

Sartres Aussage, die Hölle sind die Anderen, lebt Eva Tag und Nacht. Stets meint sie, nur so lange gemocht zu werden, bis die Anderen begreifen, wer sie wirklich ist. Jederzeit erwartet sie das Unausweichliche, den Punkt, an dem sie unvermeid-bar abgelehnt wird.

 

Mirjam gelingt es immer wieder, Eva aufzurichten, doch tief in ihrem Inneren verziehen sich weder die Verzweiflung noch das Gefühl der Einsamkeit.

 

Eine Zeitlang geht es ihr besser, sie verliebt sich und wird geliebt von Aaron. Er hat in seinem Leben viel Leid erfahren, es durchgestanden, ist ein reifer Mensch, doch Eva schafft es nicht, ihr inneres Gefängnis zu verlassen und sich in ein Leben jenseits ihrer Einsamkeit hinauszuwagen.

 

Die reine Inhaltsangabe mag nach einer Fallstudie klingen. Doch Verena Prantl, geb. 1996, wählt in ihrem Debütroman eine aus verschiedenen Ebenen und Perspektiven bestehende Erzählweise, die daraus eine eindrückliche Geschichte macht.

 

Da ist der Erzähler, der von außen auf die Geschehnisse schaut und berichtet, was Eva und die anderen Akteure erleben.

Dieser Blick wird ergänzt durch Evas Tagebuch, in dem ein "Ich" spricht und unmittelbar ihre Gefühle und Gedanken reflektiert.

Und dann gibt es noch "Eden". Er ist ganz und gar keine paradiesische Figur, er ist ein gewalttätiger Angreifer, der Eva schlägt, ihr die Rippen bricht, sie mit dem Messer und einer Zigarette verletzt. Der in ihr Haus eindringt und sie massiv bedroht.

 

Man fragt sich die ganze Zeit, wie real Eden ist. Er ist die Angst in ihrem Kopf, also nicht real, nur eine Idee oder Stimme, wie Eva immer wieder betont. Zugleich sind die Verletzungen wirklich schmerzhaft, die Narben auf ihrer Haut für jeden zu sehen. 

 

Wäre er eine Abspaltung ihrer selbst, eine Personifikation ihrer Ängste, wären diese Wundmale nicht sichtbar.

Ist er doch ein Verfolger, hat sie einen Stalker?

 

Ist er derjenige, der Eva zur Zuschauerin ihres Lebens degradiert? Der verhindert, dass sie zur Akteurin wird?

 

"Meine Stimme in ihrem Kopf war wie ein Parasit, den sie nicht loswurde. Ich war so nah bei ihr, wie ich es noch nie gewesen war. Ich war überall, ich ließ sie meine Gegenwart überall spüren. Ich war in ihren Augen, auf ihrer Haut, in ihren Lungen. Jeder Atemzug, den sie machte, machte mich stärker. Sie war schwach und ich war stark. Ihre Verzweiflung machte mich stark. Ich war so stark wie nie zuvor. Ich war endlich dort, wo ich hingehörte, ich stand im Licht. Ich war die Hauptfigur und alle andere nur kleine Nebendarsteller, Statisten.

Nein, ich schreibe und bestimme, was passiert und was nicht."

 

Man zähle, wie oft dieser Schatten "Ich" sagt, wie er sich ausbreitet in Eva, die versucht, sich zu wehren. In manchen Passagen sind die beiden Stimmen so ineinander verschlungen, dass (mir) nicht ganz klar ist, wer gerade spricht. Der Erzähler, Evas Tagebuch, Eden, die innere Stimme Evas? Gerade das zieht einen vollständig in die Geschichte hinein. Indem die Leser:innen auf demselben schwammigen Untergrund stehen wie Eva selbst, spürt man direkt ihren Kampf um die Oberhoheit über ihr Leben.

 

Woraus besteht das Leben? Aus der Realität und aus Erinnerungen, die womöglich völlig falsch sind, falsch abgespeichert im fluiden Gedächtnis? Aus falschen Interpretationen von Geschehnissen? Wer bestimmt, was richtig, was falsch ist?

 

Verena Prantl verwebt in ihrem Debüt die Geschichte Evas  mit den grundsätzlichen Fragen nach Identität und Selbst-bestimmung. Eine übergeordnete Ebene gibt sie ihrer Geschichte auch durch die Wahl der Namen ihrer Figuren.

Eva, Mirjam, Aaron und Noah und Eden. Zu diesen gesellt sich noch Ayla, dieser Name bedeutet "mit dem Mondlicht".

Ayla soll Eva zum Sprechen bringen - die Stimme, die am Ende spricht, ist zwielichtig wie das Mondlicht, brüchig wie Glas.

 

Grandios!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verena Prantl: Glas

Septime Verlag, 2023, 216 Seiten