Stine Pilgaard - Meine Mutter sagt

Die Ich-Erzählerin dieses Romans wurde von ihrer Partnerin "raus-geschmissen". Die Studentin zieht vorübergehend zu ihrem Vater, einem Pfarrer, dessen Liebe zu Pink Floyd an die zu Gott heranreicht, und dessen Frau ins Pfarrhaus. Er ist ein bisschen hilflos, versucht, seine Tochter mit Kartenspielen und Konzertbesuchen aufzuheitern. Aber: "Er ist wirklich ein guter Vater, ich überlege laut, ob der Staat ihm ein Gehalt zahlt, um mich zu ertragen, ob es für solche besonders beanspruchten Elternpaare einen Härtezuschlag gibt.

Er sagt, so funktioniert das nicht, man liebt seine Kinder immer."

 

Die Mutter läuft zur Hochform auf. Sie hält sich mit guten Ratschlägen nicht zurück, versäumt keine Gelegenheit, ihre Lebensweisheiten an Mann und Frau zu bringen, verliert  aber keineswegs ihre eigenen Interessen aus den Augen. Ganz wichtig: ihr 60. Geburtstag in schon fast einem Jahr, das will geplant sein.

 

Die Verlassene hat eine gute Freundin, die fest an ihrer Seite steht. Mulle ist ihre "Spindoktorin. Wir legen uns eine Strategie zurecht, sagt sie. Mulle studiert Staatswissen-schaften, sie ordnet Dinge gern mittels Systemen und Diagrammen. Mit einer Vierfeldertafel lässt sich die ganze Welt einfangen, sagt Mulle..."

 

Anstatt eine solche Tafel zu entwerfen, greift die Erzählerin lieber zu Zigaretten und Alkohol. In vielen Kneipen-gesprächen sondieren die beiden die Lage, Begegnungen mit Mulles Großmutter erweitern das Feld der Absurditäten.

 

Der Roman ist gespickt mit kleinen Episoden, von denen  jede eine andere skurrile Geschichte erzählt. Er lebt von Personen, von denen keine einzige auch nur ansatzweise als  durchschnittlich bezeichnet werden kann.

Sie führen einzigartige Dialoge, Stine Pilgaard schreibt geistreich, ironisch und witzig, und selbst den Gemein-plätzen der Mutter verleiht sie einen Dreh, in dem sich die Kunstfertigkeit und die eigene Stimme der Autorin zeigen.

 

Auch die Besuche bei ihrem Arzt verlaufen nicht wie man das kennt, die Gespräche sind nicht die üblichen Arzt-Patientin-Dialoge. Er versucht immer wieder, die Protagonistin mit Erklärungen zur Biologie und Chemie verschiedener Gefühle davon zu überzeugen, dass Verliebtheit rein physisch eine Art Wahnsinn ist, und er erklärte ihr, dass die Erinnerungen in einer Gehirnregion namens Hippocampus, Seepferdchen, abgelegt werden. 

 

Das inspiriert die Erzählerin zu wundervollen, sehr poetischen "Seepferdchenmonologen".

In jedem der drei Teile des Buches gibt es vier davon, sie widmen sich unterschiedlichen Organen oder Regionen des Körpers, eine jede wird mit anderen Erinnerungen assoziiert. So beherbergt das Herz "Marmorstatuen" verflossener Freunde und Lieben und die Spuren, die sie zurückließen.

Im Ohr wohnen ihre Stimmen, im Mund ihre Geschmäcker und ihr Lächeln, die Netzhaut ist ein Fotoalbum, das Zwerch-fell speichert die Musik, der Solar Plexus die Dämonen, der Nabel beherbergt die Einsamkeit. 

Und so weiter, es ist wunderbar, wie Stine Pilgaard hier eine Innenwelt der Erzählerin entwirft, sie zu einer Person entwickelt, die immer mehr sie selbst wird.

 

Sie ist eine sich stets hinterfragende, phantasievolle und schlagfertige Person, die außergewöhnliche  Liebeserklärun-gen macht, sich langsam aber sicher aus dem Garn der Mutter-Worte herauswindet und vielleicht sogar eine neue Liebe findet.

Und sie trägt nicht nur ihre eigenen Erinnerungen in sich, sondern die "aller, die mich jemals berührt haben...", das macht sie am Ende zu einem erfülltem Menschen.

 

"Ich trage eure Erinnerungen an Vergangenheit und Kindheit in mir, denn drinnen in meinem Seepferdchen sind Hunderte anderer Seepferdchen, und ich schleppe eure gesammelten Schmerzenspunkte und Lachanfälle mit mir herum, bei jeder einzelnen Bewegung."

 

 

Kaum zu glauben, dass dieser sprühende Roman das Debüt der 1984 geborenen Dänin ist. Er ist gut komponiert, tragisch und komisch, nachdenklich und überaus unterhaltsam.

Ins Deutsche wurde er trefflich übertragen von Hinrich Schmidt-Henkel, einem der profiliertesten Übersetzer aus dem Dänischen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Stine Pilgaard: Meine Mutter sagt

Aus dem Dänischen von Hinrich Schmidt-Henkel

kanon verlag, 2022, 192 Seiten

(Originalausgabe 2012)