Walerjan Pidmohylnyj - Die Stadt

Fast einhundert Jahre nach seinem Erscheinen liegt dieser Klassiker der ukrainischen Literatur nun auf Deutsch vor. Welch eine Entdeckung!

Walerjan Pidmohylnyj (1901-1937)

lässt in ihm die Stadt Kyjiw lebendig werden, er beleuchtet die Situation nach der Revolution und den Zeitgeist indem er einen Helden schafft, der seine Epoche verkörpert.

 

Stepan Radtschenko, 25, kommt vom Dorf in die Großstadt Kyjiw. Drei Jahre hat er sich auf die Aufnahmeprüfung für die Universität vorbereitet, nun ist es soweit. Dass ihm als Waisenkind, das einst Kühe hütete, dieser Weg überhaupt offen steht, verdankt er der Revolution, für die auch er gekämpft hat. Nun kämpft er zunächst mit den Banalitäten des Lebens: er muss sich für ein Stipendium bewerben, eine Unterkunft finden. Er muss sich selbst verorten in diesem Strudel, in den er geraten ist.

 

Aber er hat den festen Willen, voranzukommen und der Gesellschaft zu dienen. 

"Er war die neue Kraft, die zur Aufbauarbeit aus den Dörfern herbeigerufen wurde. Er war einer von denen, die die verdorbene Vergangenheit ablösen und mutig eine neue Zukunft errichten sollten."

 

Und er will alles für die Vereinigung von Stadt und Land tun:

"Ach, diese Vereinigung! Er dachte oft darüber nach und spürte, wie schwierig es war, sie zu erreichen, auch für den Einzelnen. Die Stadt war das mächtige Zentrum, um das die Dörfer als winzige Planeten kreisten..."

 

Im Lauf der anderthalb Jahre, die der Roman umfasst, liebt Stepan mehrere Frauen, lebt in verschiedenen Wohnungen.

Jede Frau begleitet eine Entwicklungsstufe, die Unterkünfte zeichnen seinen Weg auf der gesellschaftlichen Leiter nach. Sie werden besser, er rückt näher ans Zentrum der Stadt.

Doch obwohl er ein erfolgreicher Student der Mathematik und der Sozialwissenschaften ist, der nebenbei als Lehrer für Ukrainisch etwas zu seinem Stipendium dazuverdient, wird plötzlich der Wunsch, Schriftsteller zu werden, übermächtig.

Er schreibt Erzählungen, Drehbücher, arbeitet als Redakteur für eine Literaturzeitung, bewegt sich in Künstlerkreisen.

 

All dies verläuft nicht linear, immer wieder hat er herbe Schläge zu verkraften, Phasen des Gelingens werden unterbrochen von Schreibblockaden, Geldproblemen oder dem Erleben von bedrückendster Einsamkeit.

 

Indem er seinen Protagonisten in den verschiedenen Lebens-bereichen und Lokalitäten darstellt, eröffnet Pidmohylnyj den LeserInnen einen tiefen Einblick in die Ukraine der 1920er Jahre. Die Welt der Universität und Betriebe, der Mietskasernen, verschwiegenen Wohnungen für "städtische Treffen" mit der Liebsten, Bierhallen, Kinos, Prachtstraßen und Außenbezirke werden ebenso plastisch dargestellt wie Stepans innere Welt in all ihrer zwischen Hybris und Selbstzerfleischung schwankenden Zerrissenheit.

 

Beispielsweise muss Stepan erkennen, wie wichtig Verbin-dungen und Protektion sind - auch in der sozialistischen Gesellschaft. Er lernt konservative Spießer kennen - Pidmohylnyj zeichnet sie mit karikaturistischem Geschick. 

Mit der Liebe tut sich der junge Held schwer, was an seiner Selbstverliebtheit liegt, aber auch daran, dass er mit der sich verändernden Rolle der Frau nicht gut zurecht kommt.

Er führt Gespräche über Kunst, Religion, Schuld, Glück, Liebe und vieles mehr  mit einem befreundeten Dichter - darin reflektiert Pidmohylnyj die Diskussionen seiner Zeit um die neue Kunst, Lebensweise und Sicht auf die Welt. 

 

Pidmohylnyj berichtet nicht referierend von Gegebenheiten, von Strömungen oder Entwicklungen, er arbeitet all dies in die Geschichte ein und führt es damit erzählerisch vor Augen. Dies erweckt beim Lesen das Gefühl einer unmittel-baren Teilhabe am Geschehen - man lebt mit dem Helden, der so naiv wie berechnend, so mitleidend wie brutal sein kann. Er ist Held und Anti-Held zugleich, er ist so wenig gefestigt wie die Zeit, in der er lebt.

 

Die Stadt mit ihrer Architektur, mit ihren Stadtlandschaften, die mit der Steppenlandschaft, Trägerin vieler Erinnerungen Stepans, immer wieder konkurriert, bildet nicht nur den Hintergrund des Romans. Sie erscheint wie ein lebendiger Körper, der manchmal umarmt, manchmal abstößt, in jedem Fall alle menschlichen Regungen verstärkt.

Dass Pidmohylnyj seinen Roman nicht "Kyjiw" betitelt hat, gibt ihm universellen Charakter, "Stadt" steht für eine Idee, ein Projekt, eine Lebensweise. 

 

Er endet hoffnungsvoll, fast glücklich, der Roman:

"Er hatte sich selbst noch nie in solcher Intensität gespürt. ... Stepan wartete nicht, bis der Aufzug kam, er lief in den fünften Stock hinauf. Im Zimmer angelangt, öffnete er die Fenster zum finsteren Abgrund der Stadt.  ... Er erstarrte in süßer Verzückung angesichts der Erhabenheit dieses neuen Elements, und mit großer Geste schickte er einen begeister-ten Kuss hinab.

Und dann, im stillen Licht der Lampe auf seinem Tisch, schrieb er seinen Roman über die Menschen."

 

Die Figur Stepan Radtschenko ist biografisch an die des Autors angelehnt. Auch er wurde in einem Dorf geboren, veröffentlichte 1920 seine ersten Erzählungen, arbeitete als Lehrer, Redakteur und Übersetzer französischer Literatur, die ihn inspirierte und beeinflusste.

In den 1930er Jahren konnte er nicht mehr veröffentlichen, das politische Blatt hatte sich gewendet. 1935 wurde er verhaftet, zwei Jahre später in einem Lager erschossen.

Erst 1991 wurden seine Werke wieder publiziert.

 

Die nun vorliegende Übersetzung ist ein Experiment:

unter Leitung des professionellen Übersetzers Alexander Kratochvil entstand sie im Rahmen eines Projektes zusammen mit Studierenden, im Nachwort wird diese Art des Arbeitens als "absoluter Glücksfall" bezeichnet.

Man kann nur ahnen, wie intensiv diese Arbeit war, entstanden ist ein wunderbar schillernder Lese-Stoff,

der seinerseits ein Glücksfall ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Walerjan Pidmohylnyj: Die Stadt

Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil, 

Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok

Nachwort von Alexander Kratochvil, Lina Zalitok und 

Susanne Frank

Guggolz Verlag, 2022, 416 Seiten

(Originalausgabe 1928)