Antonio Pennacchi - Canale Mussolini

 

 

"Siebzehn Kinder hatte mein Großvater, acht Mädchen und neun Buben, und noch einmal siebzehn hatte sein Bruder, auch er acht Mädchen und  neun Buben. Alle vereint, alle an einem Strang, anfangs, eine einzige Familie, aber dann haben wir uns getrennt. Sie sind dortgeblieben,. Sie sind nicht mitgekommen ins Agro Pontino.

Aber nicht deswegen haben wir uns getrennt; sie sind nicht mitgekommen, weil wir uns schon vorher enttzweit hatten und nicht mehr zusammenfanden. Die Politik hat uns auseinandergebracht."

 

Die Geschichte der riesigen Familie Peruzzi beginnt mit dem Großvater, er wird 1875 geboren, mit dreißig hat er schon einen "Haufen Kinder": 1897 kommt der älteste Sohn Temistocle zur Welt, ein Jahr später ein Mädchen, im Jahr darauf Pericle und so weiter.

Diese beiden Söhne nehmen zentrale Rollen in der Familie ein, auch Iseo und Adelchi sind ganze Passagen gewidmet, andere sind einfach Onkel, Tante, Cousins - es ist nicht einfach, den Überblick zu behalten.

 

Die vielen Kinder sind der Reichtum der Armen, und was das Leben aller vor allem prägt sind Arbeit und Hunger. Anfangs läuft alles noch ordentlich, die Familie arbeitet als Pächter auf immer größeren Höfen im Veneto, aber als der Grundbesitzer Zorzi Vila ihnen alles Vieh wegnehmen lässt, um Schulden einzutreiben, steht den Peruzzis das Wasser bis zum Hals.

 

Wie gut, dass der Großvater im Jahr 1904 einem gewissen Rossoni aus der Patsche geholfen und ihn aus dem Gefängnis befreit hat.

Dieser Rossoni ist ein glühender Sozialist, er reist ständig umher, auch ins Ausland, gründet politische Vereinigungen, betreibt Agitation, der Großvater empfindet große Sympathie für diesen Mann und seine Ideen.

Rossoni vollzieht in den 1920er Jahren die Wandlung zum Fascho-Sozialist und wird ein hohes Tier unter Mussolini (der seine politische Laufbahn ebenfalls als Sozialist begann).

 

Rossoni schuldet Peruzzi also noch einen Gefallen, und als die ganze Familie ohne Haus und Hof dasteht, wendet sich der Großvater an den alten Freund: sie werden als Siedler in das Programm der Pontinischen Sümpfe aufgenommen. Sprich: sie bekommen einen Hof, müssen das Land aber erst trockenlegen.

Die Ingenieure des Duce legen den entscheidenden Kanal an, der es erst möglich macht, das Land urbar zu machen (schon die Römer hatten dies erfolglos versucht).

Die Faschisten setzen sich in den Augen der kleinen Leute für ihre Interessen ein: die Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gedient hatten, die Bauern, die die Erde bearbeiten, sollten endlich Land bekommen - und sei es Sumpfland.

Die Trockenlegung der Sümpfe gelingt, ganze Städte werden in wenigen Monaten aus dem Boden gestampft, die Siedler sind dankbar, bekommen sie doch auch noch Saatgut und finanzielle Starthilfe: Mussolini ist ihr Mann.

Und Freiheit und Demokratie hatten sie auch vorher nicht gehabt.

 

Der Riss geht durch die Familie, denn der Bruder des Großvaters bleibt bei den Sozialisten, und nach dem Krieg wird die Politik allgegenwärtig, sie ist keine Sache mehr, über die man einfach nicht spricht.

 

In drei Jahren werden dreißigtausend Menschen aus dem armen Norden in die Pontinischen Sümpfe "heruntergeschafft", die Peruzzi gehen 1933 dorthin, alles ist gut organisiert, bis hin zum Milchkaffee, den der faschistische Frauenbund an den Bahnhöfen ausgibt.

 

Zum ersten Mal arbeiten sie auf eigenem Grund. 

Und halten dafür dem Duce bis über sein Ende hinaus die Treue.

"...Keiner war mehr Sozialist, alle hatten den Faschismus akzeptiert, als sie sahen, dass mit diesem Duce da endlich jemand war, der das Lnd wirklich regierte, wie man so schön sagt, dass man beruhigt sein konnte, endlich war da jemand der an alles dachte..."

 

Auch wenn Onkel Pericle nicht aus Äthopien zurückkommt und diverse andere männliche Familienmitglieder nicht aus dem Zeiten Weltkrieg zurückkehren, die Faschisten waren die Ersten gewesen, die ihnen jemals zuhörten.

Die Amerikaner bringen nach dem Krieg das DDT, womit erstmals die Malaia effektiv bekämpft werden kann, sie bringen das Penizillin, "außerdem die Demokratie und die Freiheit, sagt ja niemand was. Wir sagen ihnen auch hierfür danke schön, aber - wenn Sie gestatten - so arg viel Freiheit und Demokratie hatten zumindest wir Peruzzi auch vor dem Faschismus nicht gesehen, ja, es war unter dem Faschismus, dass uns erstmals jemand zuhörte, wer sollte uns denn sonst zuhören? Damit will ich aber gar nichts bestreiten: Dank den Amerikanern für Freiheit und Demokratie. Vor allem aber - wenn Sie gestatten - für den Wohlstand. Den hatten wir wirklich noch nicht gekannt. Nur Hunger hatten wir bis dahin gekannt."

 

Pennacchi liegt es fern, den Faschismus schön zu reden oder seine Verdienste zu rühmen. Er erklärt aber sehr schön, wie aus Sozialisten Fascho-Kommunisten oder Faschisten wurden. Er erklärt es ohne soziologische Studien zu bemühen und Wählerverhalten zu analysieren - er hat den Menschen genau zugehört. Er kommt von dort, ist ein Nachfahre der ersten Siedler.

Diesen Roman zu lesen ist, wie am Wirtshaustisch zu sitzen, und einem begnadeten Erzähler zuzuhören. Er fängt mit dem Großvater an, da kommt er natürlich auf die Großmutter (der eigentlichen Regentin der Sippe), wie war das noch mit dem Gefängnis in Coppola, und damals, als der Duce zusammen mit Rossoni zu Besuch war und die Großmutter ihn sehr beeindruckte, und da fällt ihm ein, dass Temistocle einst ...

Er erzählt nicht verwirrend, aber er holt aus, blickt zurück, manchmal auch nach vorn und, ganz wichtig: er kann Menschen darstellen. Mit dem Blick auch für ihre unschönen Seiten, hin und wieder recht sarkastisch, nicht um Entschuldigung bittend, aber um Verständnis.

 

An manchen Stellen fühlt man sich an eine Erzählung aus dem Kreis der antiken Götter erinnert mit ihren Eifersüchteleien, Machtkämpfen, Halbgöttern (quasi unehelichen Kindern) und ihrer großen Liebesleidenschaft. Vor allem am Ende der Geschichte, als Tante Armida, die Bienenkönigin, von ihrem Volk über ein Minenfeld geführt wird...

Denn auch die Liebe kommt nicht zu kurz, sie führt in den Himmel und in die Hölle.

Das ändert sich nie, egal wer regiert, und auch nicht Großmutters Traum von einem schwarzen Mantel, der immer Böses ankündigt.

 

2010 bekam Pennacchi den Premio Strega, den wichtigsten Italienischen Literaturpreis, für diesen Roman. Er hat ihn verdient, er ist ein großartiger Erzähler mit viel Liebe zu seinen Figuren.

 

 

 

 

 

 

 

Antonio Pennacchi: Canale Mussolini

aus dem Italienischen von Barbara Kleiner

Hanser Verlag, 2012, 446 Seiten

Piper Taschenbuch, 2013, 448 Seiten

(Ital. Originalausgabe 2010)