Patricia Paweletz - Meerjungfrauengesang
Über vier Generationen und einhundert Jahre deutsche Geschichte erstreckt sich dieses vielstimmige, auf dem Zeitstrahl vor- und zurückspringende Buch.
Patricia Paweletz fügt die komplexe Familiengeschichte mit jeder Episode dichter ineinander, im Lauf des Romans entsteht so ein lebendiges, berührendes und erschütterndes Porträt von Frauen, von denen eine jede ein ganz besonderes Verhältnis zum Wasser hat.
Den größten Raum nimmt die 1970 geborene Philippa ein.
Man begleitet sie durch ihre Kindheit und Jugend. Lernt ihren Hund kennen, geht mit ihr ins Freibad, erlebt den ersten Tag am Gymnasium und ihre Enttäuschung, als ihre beste Freundin sich abwendet. Lernt neue Freundinnen kennen, fragt sich, warum sie sich in Wien, wohin sie zieht, um zu studieren, so verloren fühlt. Ist es wirklich nur das Meer, das der in Norddeutschland aufgewachsenen Philippa fehlt? Oder ist es der Kampf, "den du da offenbar gegen die Geister der Vergangenheit ausfechten musst", wie ihre Mitbewohnerin Resi vermutet?
Immer wieder tritt ihr die Vergangenheit in den Weg.
1982 will die Mutter, dass sich Philippa und ihr Bruder eine Fernsehsendung über das anschauen, was "wir Deutschen ... gemacht haben". Als ihr Freund Fabian zur Bundeswehr eingezogen wird, fährt sie, ohne zu wissen warum, zu einer Gedenkstätte für Opfer des Naziregimes. Eine Lesung mit Frau Wallfisch trifft sie im Innersten.
Und sie weiß, dass ihr Großvater Richard bei der SS war.
Das ist nicht das einzige Familiengeheimnis, das vermutlich für immer eines bleiben wird. Im Prolog zum Roman besucht Philippa ihre Mutter im Pflegeheim. Dorthin hatte sie Gitte nach einem schweren Sturz bringen müssen, seitdem ist "sie eine Andere": "Viele Geheimnisse wird sie nun in ihre eigene Welt mitnehmen. Vieles habe ich sie nicht gefragt."
Wieviel weiß sie über Gittes frühe Kindheit in Bremen, über die Kriegs- und Nachkriegsjahre auf dem Land, über Gittes Leben in Uruguay und Argentinien, wohin ihre Eltern nach der Rückkehr Richards aus der Gefangenschaft gegangen waren? Gitte lebte dort auf, hörte dort aber auch erstmals von den Verbrechen der Deutschen. Die drängenden Fragen an ihren Vater werden mit einem "wir müssen nach vorne schauen" beantwortet.
Gittes Mutter Clara, geboren 1905, ist eine Frau, die sich in ihr Schicksal gefügt hat. Sie lebt das Leben, das ihr Mann für sie bestimmt. Sie erträgt seine Untreue, pflegt ein enges Verhältnis zu ihren Schwestern Annalotte und Helene.
Vor allem die zwei Jahre ältere Helene ist es, die Clara zur Seite steht. Nicht nur, weil sie Gitte zu sich nimmt, nachdem Clara durch einen Sturz in die Weser versucht hat, sich das Leben zu nehmen und einige Zeit braucht, um sich zu fangen. Es beginnt schon viel früher und reicht in den aller intimsten Bereich der beiden Frauen.
Die Leser:innen wissen mehr über das Leben der Schwestern Helene, Clara und Annalotte, mehr über Gitte als Philippa. Doch sie findet ihren Weg durch all die Wellen und hat das Glück, einen Partner zu finden, der heilsam für sie ist.
"Als sie vor zwei Jahren mit Ende zwanzig Frank begegnete, fühlte sie sich das erste Mal seit ihrer Kindheit wieder ganz. Als würden sich die zersplitterten Teile ihres Selbst allmählich wieder zusammenfügen. Was daraus entstand, war gleichzeitig neu und vertraut."
Der Roman endet mit der Wassergeburt ihrer Tochter Muriel. Dieser Name kommt aus Irland und hat eine wunderschöne Bedeutung: "helles oder strahlendes Meer."
Patricia Paweletz zeichnet sehr lebendige Figuren, eine jede spricht mit einer eigenen Stimme. Sie taucht ein in ganz und gar verschiedene Leben, die eines gemein haben: keine der Frauen lässt sich unterkriegen, jede behauptet ihren Platz und ihre Würde. Auch gegen den Widerstand der Umstände.
Eine jede Generation gibt bewusst und unbewusst Wissen weiter - und Geheimnisse. Nicht immer müssen letztere gelöst werden, um ihre Last abzustreifen, das führt vor allem Philippa vor Augen.
Der Roman ist ein intensives Leseerlebnis. Die episodische Erzählweise, die sich ständig in der Zeit vor- und zurück-bewegt, entspricht sich einstellenden Erinnerungen, die in Wellen heranschwappen. Sie fordert ein aufmerksames Lesen, erhält die Spannung und zeigt, wie wenig linear ein Leben in Wirklichkeit verläuft.
Patricia Paweletz: Meerjungfrauengesang
PalmArtPress, 2021, 236 Seiten