Salvatore Niffoi - Redenta Tiria
Eine sardische Legende
"Ajò! Mach dich fertig, deine Zeit ist um!< Nur das sagt sie, Batti! Dann streckt sie eine unsichtbare Hand aus und nimmt dich mit sich fort."
Diese Stimme des Todes sagt (fast) jedem Bewohner des Dorfes Abacrasta in den sardischen Bergen, wann es Zeit ist zu gehen. Dann nehmen die Männer ihren Gürtel, die Frauen einen Strick, und hängen sich auf.
Battista Graminzone, ein ehemaliger Standesbeamter, der die Totenscheine ausstellt, hat die Geschichten verschiedener Dorfbewohner aufgeschrieben. Er will erkunden, warum die Menschen "so leicht aus freien Stücken ihr Leben wegwerfen." Diese Geschichten bilden den ersten Teil des Buches. Eine jede endet mit einem Selbstmord, nachdem die Stimme vernommen worden war.
Doch schon in der ersten Geschichte lässt Graminzone wissen, dass sich eines Tages das Blatt gewendet hat:
wie durch ein Wunder hört das freiwillige Sterben plötzlich auf, und zwar an dem Tag, an dem "Redenta Tiria, ein blindes Weib, barfuß und mit Haaren, glänzend wie Rabenflügel"
im Dorf erscheint.
Diese Geschichten, in welchen Redenta Tiria im letzten Moment den Lebensmüden besucht und ihn dazu bewegt, sein Leben nicht einfach wegzuwerfen, bilden den zweiten Teil des Buches.
Alle neunzehn Erzählungen sind Texte über das Leben.
Eine jede erzählt den Werdegang, man könnte auch sagen den Leidensweg, eines Mannes oder einer Frau.
Abacrasta ist ein armseliges Dorf, wie viele in den Bergen.
Es gibt unglaublich viele Schafe, Ziegen und Kühe, die Menschen leben von diesen Tieren. Immer wieder muss man sich während der Lektüre klar machen, dass sie Erzählungen in der heutigen Zeit spielen, es gibt nämlich auch Fahrzeuge, Fernseher und sehr sehr viele Handys.
Doch die Lebensgewohnheiten hängen zum Teil noch in vergangenen Jahrhunderten fest.
So beendet Beneitta Trunzone ihr Leben, als sie nach alter Familientradition mit achtzehn Jahren in ein Kloster eintreten soll. Seit Generationen wird eine Tochter dem Herrn geschenkt, nachdem er den Stammvater der Sippe vor dem Tod gerettet hat. Im Jahr 1968 sieht Beneitta keinen anderen Ausweg als den Strick.
Oder Boranzela Coro ´e Cane: ihr steinhartes "Hundeherz" wird augenblicklich weich, als sie einen Schinken isst, der von Ilariu Lathone zubereitet wurde. Doch sie will sich ihm nicht hingeben und fängt "aus lauter Verzweiflung hemmungslos zu essen an und wurde in kurzer Zeit fett wie eine Sau." Sie könnte sich nicht mit einem Wilddieb verbinden. Weil der den trefflichen Schinken hergestellt hatte, der ihrem Leben eine neue Wendung gab, tötet sie nicht nur die Gefühle, sondern sich selbst mit unmäßigem Essen. Den endgültigen Tod bringt dann ein Rasiermesser.
"Der Hirtenjunge" ist ein sanftmütiger Junge, dessen Leben ruiniert wird, weil ihm eines nachts fünfzig schlachtreife Lämmer entführt werden. Er war eingeschlafen und hatte nichts gemerkt. Der Besitzer der Herde erschlägt ihn fast,
der Vater will ihn zwingen, sich bei ebendiesem Mann dafür zu entschuldigen, dass er eingeschlafen ist. Candidu soll weiterhin für ihn arbeiten. "Aus Trotz gegen die Schlechtigkeit der Menschen erhängte er sich dort am Tor."
Alle Erzählungen handeln im Grunde von der Armut.
Sie macht die Menschen grob, weil jeder Verlust eine Katastrophe ist, weil jeder einmal zuteil gewordene Genuss die Ordnung durcheinander bringt.
Die Erzählungen handeln von Männern, die in jedem Jahr ihre Frauen schwängern, die ihre Kinder nicht zur Schule gehen lassen, sie an den Ohren packen wie die Ochsen an den Hörnern und ihnen den Ochsenziemer überziehen, die jeden Hauch von Freiheit sofort ersticken.
Die mit aller Macht die schlechten alten Zeiten festhalten wollen.
Und dann: Redenta Tiria. "Ich bin die Tochter der Sonne und bin gekommen, um Licht ins Land der Finsternis zu bringen."
Ihre Mutter will keine "Menschenopfer" mehr, sie soll den "Verbrechern" in Abacrasta Einhalt gebieten.
In einem dunklen Moment im Leben des Battista Graminzone kommt sie zu ihm und sagt:
"Ich müsst euch einfach abgewöhnen, das Geschenk des Lebens aus einer Laune heraus wegzuwerfen! ... Ihr lebt nicht mehr zu Zeiten von Eracliu Palitta und Artemisia Crapiolu, macht die Augen auf und seht die Welt, wie sie ist! Zu oft habt ihr das böse Blut vergossen, das in euren Adern fließt, jetzt reicht´s!"
In jenem zweiten Teil des Buches, der "Vom wiederge-fundenen Leben" überschrieben ist, hat die Moderne wenigstens ansatzweise Einzug gehalten. Was nicht bedeutet, dass das Leben damit einfacher oder gerechter wird. Die Protagonisten der Geschichten straucheln schwer, gehen ganz verzwickte Wege, finden aber am Ende so etwas wie ein bescheidenes Glück, oder zumindest eine gewisse Ruhe, weil sie dem Rachegedanken abschwören.
Dies ist der erste Schritt, um aus dem archaischen Kreislauf von überkommenen Traditionen, Vergeltung und Blutrache auszubrechen.
Das Licht, das Redenta Tiria ins Land der Finsternis bringt, ist das Licht der Aufklärung.
Mag sie schwarzhaarig, barfüßig, blind sein und am Ende auf einem geflügelten weißen Pferd davonreiten bzw fliegen:
so viel Drama und Symbolik muss und darf sein.
Das Leben kann nur anfangen, wenn wir es wollen, ist sinngemäß die Botschaft, die sie Graminzone zurücklässt.
Salvatore Niffoi: Redenta Tiria - Eine sardische Legende
Übersetzt von Sigrid Vagt
Wagenbach 2015, 176 Seiten
(Originalausgabe 2005)