Marie NDiaye - Ein Tag zu lang

Die im Jahr 2015 mit dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnete Schriftstellerin verfügt über die Fähigkeit, den Leser in eine atmosphärisch sehr dichte, völlig fremde Welt zu führen.

Keine märchenhafte, sondern eine zutiefst beklemmende Welt, die stark an Kafka erinnert. Wie bei diesem finden sich Menschen plötzlich ohne Grund in einer ausweglosen Situation. 

 

Der Lehrer Herman, seine Frau Rose und der achtjährige Sohn (er wird nie beim Namen genannt) machen jedes Jahr von Mitte Juni bis Ende August Urlaub auf dem Land. Normalerweise kehren sie am 31. August zurück nach Paris. Nicht so in diesem Jahr, da wollten sie etwas später als sonst abreisen. Dieser Entschluss erweist sich als fatal: am Morgen des 1. September sind Rose und der Junge verschwunden.

 

Herman wartet, geht schließlich zu einer Nachbarin, wo die beiden Eier holen wollten, die Nachbarin kann ihm nicht weiterhelfen. Also geht Herman ins Dorf, zur Polizei.

Die hat bereits Dienstschluss, er soll am nächsten Tag wiederkommen. Er denkt, es könnte besser sein, sich direkt an den Bürgermeister zu wenden, diesen erreicht man aber nur nach langer vorheriger Terminabsprache. Er wird zum Beauftragten für Tourismus geführt, der sich Hermans Sache annimmt. 

Allein der Weg bis zu diesem gleicht einer Wanderung durch ein Labyrinth: er wird von verschiedenen Damen durch lange Gänge geführt, er verliert mehr und mehr seinen Willen, er macht sich mehr Sorgen um ein richtiges Benehmen (er versteht die Dorfbevölkerung nicht wirklich) als um Frau und Kind. Er scheint in eine Blase gefallen zu sein, aus der er nicht mehr herauskommt.

 

Alfred, der Tourismusbeauftragte, gibt ihm einen Rat:

"Gut. Ich rate Ihnen sogar, es ganz zu vergessen, alles zu vergessen was Sie mit Ihrem vergangenen Leben eines Pariser Sommergastes verbindet. Und passen Sie folglich auch auf, was Sie sagen. Sie werden sehen, dann wird man Sie ganz allmählich, ohne dass Sie es merken, zu Ihrer Frau und dem Kind führen, und wer weiß, vielleicht werden Sie darüber gar nicht so glücklich sein." 

 

Herman zieht ins Hotel du Relais, in ein Zimmer direkt neben Alfred. Man empfiehlt ihm, die Tür stets offen zu lassen, er hat ja nichts zu verbergen. Herman fühlt sich hingezogen zu Charlotte, der Tochter der Hoteliers, doch sie wohnt im Zimmer Alfreds. Auch Métilde gefällt ihm gut,

die Empfangsdame aus dem Rathaus, aber sie ist mit Gilbert liiert. 

 

Herman wird eingesponnen in das Hotel- und Dorfleben.

Er darf sogar an einer Versammlung der Kaufleute teilnehmen - dieses Treffen gleicht unverkennbar einer Gerichtsverhandlung über diverse Dorfbewohner - aber in seiner eigentlichen Sache, der Suche nach Rose, kommt er überhaupt nicht weiter.

 

Er wird zu einem Schatten, einem leeren Körper ohne Antrieb, ohne Ziel, gefangen von dem Versuch, sich einzufügen. Er kam als Fremder in das Dorf und seine Bemühungen, sich einzufügen, entfremden ihn noch mehr: den anderen und sich selbst. Und warum? Weil er das eherne Gesetz, dass spätestens am 31. August die Abreise stattzufinden hat, missachtete.

Am 1. September hört übrigens auch der Himmel auf, blau zu sein. Es setzen Regen und schneidende Kälte ein, das Land versinkt in Unbewohnbarkeit bis zum nächsten Juni, wenn die Feriengäste kommen.

Das ist völlig absurd.

 

Im weiteren Verlauf der Geschichte erfährt Herman, dass auch Alfred aus Paris stammt, im Dorf seine Frau verloren hat und deshalb geblieben ist. Sie ist die Frau, die im Haus gegenüber am Fenster sitzt und teilnahmslos hinausstarrt. Und: Herman sieht Rose und den Jungen auf der Straße,

er sieht sie bald auch in einem Privatzimmer, das die Schuhhändler vermieten. Die beiden gleichen Gespenstern, sie wandeln herum wie Untote...

 

Das Anrennen gegen Gummiwände, die Freundlichkeit aller, die so tun, als würden sie weiterhelfen, das Versinken in Willenlosigkeit und am Ende der Wunsch, zurückzukehren in diese merkwürdige Hölle (Herman war kurz im Nachbarort, fährt aber lieber mit einem betrunkenen Taxifahrer bei heftigem Sturm zurück als dort zu bleiben) - der Leser wohnt einer unentrinnbaren Situation bei, Herman hat von Anfang an keine Chance.

Ein ungreifbares "man" hat sein Leben übernommen.

 

"Herman spürte, wie er im Dorf jetzt selbst zu einer Art unerlösten Seele wurde, und diese Seelen verließen den Ort, den sie gewählt hatten oder an dem sie gestrandet waren, niemals. Er versuchte gleichwohl zu lachen und sich selbst töricht zu finden. Aber die wachsende Angst beklemmte ihm den Atem."

 

NDiaye gelingt es vom ersten Satz an, den Leser in diese absurde Welt, die so nah an der wirklichen liegt, zu ziehen.

Herman ist kein Sympathieträger, er ruft weder Mitleid noch Verachtung hervor. Die Szenerie des Dorfes und der Landschaft sind gleichzeitig sehr konkret und völlig nebulös. Der schmale Roman ist eine sehr gelungene Verdichtung von Stimmungen, die Verlassenheit und das Fremdsein werden eindrucksvoll beschrieben.

 

 

 

 

 

 

 

Marie NDiaye: Ein Tag zu lang

Übersetzt von Claudia Kalscheuer

Suhrkamp Verlag, 2012, 158 Seiten

Suhrkamp Taschenbuch, 2014, 158 Seiten

(Französisches Original 1994)