Kenneth Moe - Rastlos

"Du fragst, ob ich über dich schreibe, und die kurze Antwort darauf lautet "ja". Der Rest dieses unbeholfenen Briefs mag eine längere Antwort sein. Eitel, wie du bist, nehme ich an, dass du wohl die ganze Geschichte hören willst - wie ich mich verliebt habe, dass ich immer noch Sehnsucht habe - und dann willst du sicher, dass ich Poesie in all dem Elend finde und mir irgendeine Weisheit aus dem Arsch ziehe. Das sollte ich schon hinkriegen."

 

Dies ist die erste Passage des Romans, der eine Abfolge von Briefen ist. Der Verfasser und Ich-Erzähler wurde von seiner Freundin verlassen, nun beschreibt er sein trauriges, um nicht zu sagen miserables Leben, das er hauptsächlich in seinem Sessel verbringt, mit diesem zu verschmelzen droht.

 

Der Erzähler leidet unter Liebeskummer und  all den Kindern, die dieser gebiert: der Einsamkeit, den Wunden der Zurückweisung, Selbstzweifeln, dem Gefühl "außerhalb" zu stehen. Außerdem leidet er an einer "mystischen Allergie", einem wandernden Krebs, seinem eigenen Geruch, den Geräuschen der Hausbewohner und anderem mehr.

 

Die Briefe sind jeweils eigenständige Episoden, in denen er grundehrlich von seiner Situation erzählt. Er beschönigt nichts, unterschlägt nichts.

Aber er wäre kein Schriftsteller, würde er sich nicht auch Gedanken über die Literatur machen, über Sinn und Unsinn des Schreibens:

 

"Sollte das nicht vielleicht die Funktion von Literatur sein: den Schmerz nicht auszuschmücken, sondern ihn zu Tode zu schildern, um dann die Bitterkeit in den Blutkreislauf zurückzuführen, als verabreichte man sich eine Impfung mit Stoizismus?"

 

Das wäre ein Schreiben nur für sich selbst. Er aber schreibt für zumindest eine Leserin, wagt sich aus dem inneren Kokon hinaus, bringt seine Texte in die Welt.

Er schreibt Sätze, die, wie ein ins Wasser geworfener Stein, Wellen im Leser auslösen:

 

"Jedes Mal, wenn ich an deinen Namen denke, ist es, als würde der Wecker am Morgen nach einer schlaflosen Nacht klingeln."

 

Zwischen und in die Episoden schieben sich Aphorismen, die zwar von der Trauer gespeist sind, über diese aber hinaus-gehen. Die Phantasien, Träume, Glaube, Liebe, Hoffnung im Alltag platzieren, den Körper nicht aussparen, bis hin zu der Frage, ob sich erlittene Traumata über Generationen hinweg vererben können.

 

Er fragt sich, was Integrität ist, was Vernunft, wie diese sich zu  Gefühlen verhält, wie ein gelungener Schreibprozess aussähe - wie ein Springen von Stein zu Stein -, er geht der Idee nach, dass alle Lebewesen "an den Wurzeln miteinander verbunden" sind, also auch er und seine LeserInnen. 

Der Autor lässt seinen Gedanken freien Lauf, doch der Roman ist konzentriert, er ufert nicht aus. Schön ist, dass er die LeserInnen immer wieder überrascht, mit einen Bild, einer Wendung, einer Seitenansicht.

 

So ungefähr ein Jahr ist vergangen, als der Erzähler merkt, dass er sich herausgearbeitet hat aus seinem Sessel, seiner Trauer. Und begriffen hat, "... dass das Einzige, dessen ich mir inmitten all dieser Dinge sicher sein kann, ist, dass jedes Gefühl morgen sowieso ein ganz anderes sein wird..."

Er muss sich zur "Vorläufigkeit" verpflichten, "denn manchmal scheint es, als wäre es der Sinn des Lebens, übereilte Schlüsse zu ziehen."

 

So das vorläufige Fazit des vorletzten Briefes. Aber Kenneth Moe verfügt ja auch über eine gehörige Portion Ironie:

 

"Ich begriff das, und dann vergaß ich es sofort wieder."

 

 

Der 1987 in Norwegen geborene Schriftsteller bekam 2015 für seinen Erstling den Tarjei-Vesaas-Debütpreis.

Gekonnt ins Deutsche übersetzt wurde die junge und schon sehr eigenwillige literarische Stimme von Alexander Sitzmann, der zum Glück auch die an machen Stellen noch tastenden Schritte nicht weggelassen hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kenneth Moe: Rastlos

Aus dem Norwegischen von Alexander Sitzmann

Residenz Verlag, 2022, 112 Seiten

(Originalausgabe 2015)