Klaus Modick - Sunset
Dieser Roman reflektiert einen Tag im Leben des Schriftstellers Lion Feuchtwanger. Es ist der 17. August 1956, Feuchtwanger lebt seit gut dreizehn Jahren in Kalifornien im Exil.
An diesem Tag, dessen zwölf Stunden sich in zwölf Kapiteln niederschlagen, ist er alleine in dem großen Haus.
Seine Frau Marta ist weggefahren, auch die Sekretärin ist abwesend.
Feuchtwanger (1884 in München - 1958 in Los Angeles) macht seine Frühgymnastik, er verspürt ein leichtes Stechen im Leib. Da schrillt die Klingel mit unangenehmem Ton.
Er durchquert den riesigen Salon, kommt an verblühenden Rosen vorbei und denkt an die Männer der Einwanderungs- behörde, die so oft im Auto vor dem Haus sitzen, oder auch ums Haus schleichen. Er nennt sie "Boten", was sofort die Assoziation zu Kafka herstellt.
In der Tat, es ist ein Bote, der geklingelt hat, aber ein harmloser Postbote, der ihm ein Telegramm bringt. All die unangenehmen Begleiterscheinungen des Morgens, des Klingelns, deuten auf ein schlechte Botschaft hin.
So kommt es dann auch.
Feuchtwanger erhält die Nachricht, dass sein Freund und literarischer Partner Bertold Brecht (geb. 1898) am 14. August in Ostberlin verstorben ist, im Alter von nur achtundfünfzig Jahren. Brecht war für ihn manchmal wie ein jüngerer Bruder gewesen, manchmal wie ein Sohn. Feuchtwanger war Brechts Förderer, als Erster hat er dessen literarisches Talent erkannt und ihn nach Kräften unterstützt, auch finanziell.
Sofort taucht Modick in den Themenkomplex Heimat-Exil ein, indem bei Feuchtwanger die Erinnerungen an die Zeit des Kennenlernens wach werden und er darüber sinniert, in welchem Verhältnis er zu Brecht steht - stand - wie er sich korrigiert. "Aber Brecht und er sind, ach, waren ja Freunde."
"Und weil er nie Vater geworden ist, nie wirklich Vater jedenfalls, weiß er im Grunde gar nicht, was väterliche Gefühle sind. Aber vielleicht ist genau das der Grund, warum solche Gefühle ihn manchmal heimsuchen? Heimsuchen, denkt er. Schönes, deutsches Wort. Ein Heim suchen. Merkwürdiges Wort, weil es das Gegenteil sagt. Nicht ein Heim suchen, sondern verfolgt werden. Verfolgte sind immer auf der Suche nach einem Heim. Auch Brecht war immer auf der Suche nach einem Zuhause, obwohl er sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als es einzuräumen."
Feuchtwanger ist der letzte große deutsche Schriftsteller,
der noch im Exil lebt. Brecht war Ende 1947 nach Europa zurückgegangen - einen Tag nach seiner Befragung durch den Ausschuss für unamerikanische Umtriebe. Ab November lebt er in Zürich, im Oktober 1948 reist er über Prag nach Ostberlin (durch Westdeutschland kann er nicht fahren).
Im Mai 1949 verlässt er Zürich endgültig, im September nimmt sein Theater in Ostberlin den Spielbetrieb auf.
Er hat nie Fuß gefasst in Amerika, er kam sich vor wie ein "Lehrer ohne Schüler."
Feuchtwanger hingegen wird verlegt und verehrt, seine Romane werden in viele Sprachen übersetzt. Er kann sich ein schönes Haus leisten, das zum Refugium vieler Flüchtlinge aus Deutschland wird. Zum Teil leben sie gewisse Zeit bei ihm, zum Teil unterstützt er sie finanziell. Das tut er diskret, oft wissen die Beschenkten nicht, von wem das Geld kommt. Was zu solchen schmerzlichen Vorkommnissen führt, dass Menschen, denen er großzügig geholfen hat, ihn bei der Behörde anzeigen und kommunistischer Umtriebe bezichtigen. Doch daran will Feuchtwanger nicht mehr denken.
An diesem 17. August versucht er also mit Hilfe der Zettel,
die Marta ihm hinterlassen hat (was er essen soll, wo er die vorbereiteten Mahlzeiten findet, wann die Katzen und die Schildkröten gefüttert werden müssen etc) seinen Tag zu strukturieren. Versucht sogar zu arbeiten an diesem Tag,
er bringt tatsächlich ein paar Sätze zu Papier. Sie betreffen seinen aktuellen Roman "Jefta und seine Tochter."
Jefta hatte vor seinem Gott Jahwe das Gelübde abgelegt, ihm das Erste zu opfern, was ihm begegnet, wenn er in seine Heimatstadt zurückkommt, sofern die Prophezeiung, er werde die Stämme Israels einigen, wahr wird. Ihm begegnet nicht eine Ziege oder ein Schaf, ihm begegnet seine geliebte Tochter Ja´ala. Jefta tötet sie.
Feuchtwanger betrachtet sein Gesicht im Spiegel, an jenem Tag der Todesnachricht, und sieht darin Jefta. Die Trauer über seine früh verlorene Tochter ergreift Besitz von ihm und in diese Trauer mischt sich starkes Schuldgefühl.
Ihr Tod war auch eine Befreiung von Verantwortung, wie hätte er als Vater ungestört weiterschreiben können?
Das Mädchen liegt in Oberitalien, in Pietra Ligure, begraben. Die Grabinschrift lautet:
ELISABETH JA´ALA ALIENA IN TERRA SUB TERRA ALIENA. Als Fremde in fremder Erde.
In Feuchtwanger vermischen sich Traum, Erinnerungen, literarische Arbeit, Angst, sehr stark die Frage nach der aufgeladenen Schuld, nicht nur in Hinsicht auf das Töchterchen Elisabeth, sondern auch wegen der Erleichterung, die er empfand, als Marta ihm erzählte, sie habe abgetrieben, wenige Monate nach dem Tod von Elisabeth. Er war nie wirklich Vater gewesen.
Ihm wird klar, dass er schreibt, um freigesprochen zu werden.
"Immer aber schreibt man, weil man geliebt werden will. Trotz aller Klarheit, aller Vernunft, trotz aller guten Absichten - in seinem Schreiben ist auch viel Koketterie gewesen, Eitelkeit, Jagd nach Anerkennung, Geld, Liebe und schließlich ist ihm das Schreiben zu Heimat und Unterschlupf geworden."
Der Trost des Schriftstellers, der seine Heimat im Schreiben hat, darüber, dass er seine Sprache verloren hat. In der Heimat entwickelt sie sich weiter, der Autor in der Ferne ist von diesen Entwicklungen ausgeschlossen. Zeitungen und Bücher sind nicht das gleiche, wie das Leben in einem Land, in dem die Sprache gesprochen wird.
Das letzte Kapitel ist nach den Gedanken an die Familie Feuchtwangers mit seinen acht Geschwistern noch einmal (fast) ausschließlich Brecht gewidmet (das Inquisitions-tribunal McCarthys schleicht sich auch hier wieder ins Gedächtnis).
Brecht ist gekommen, um sich endgültig zu verabschieden. Das sagt er aber nicht. Das wird Feuchtwanger erst klar,
als Ruth Berlau, die Brecht mitgebracht hat, Fotos von den beiden Männern auf der Bank am Haus macht. Erinnerungsfotos. "Die Szene hatte Brecht inszeniert."
Erst bei der 2. Lektüre des Romans wird gewahr, wie dicht er komponiert ist. Wie viele Themen auf weniger als 200 Seiten nicht nur angerissen werden, sondern tiefgründig bedacht und das in einer Sprache, die schlicht zu nennen falsch wäre. Zurückhaltend ist das treffendere Wort.
Modick beherrscht die Kunst, weitläufige Fragestellungen unaufdringlich zusammenfließen zu lassen.
In den Gedanken Feuchtwangers entsteht ein Fluss, der nicht willkürlich durch eine Landschaft mäandert, sondern der ganz konzentriert - ausgehend von der Freundschaft zu Brecht - durch sein Leben wandert und Lichter auf die Ereignisse wirft, die es bestimmt haben.
Das waren - wie in jedem Leben - Herkunft und Familie, eigene Interessen und Werdegang, Begegnungen mit Menschen und Ideen, die Politik. Schuld.
Modick entwickelt daraus ein Schriftstellerleben im Exil ohne Rückkehr. Er reflektiert darin seine eigene Arbeit als Schriftsteller mit ihrem ständigen Suchen und Verwerfen.
Und er gibt dem Roman eine Dimension, die über die Beschreibung eines bestimmten Lebens hinausgeht.
Eine solche Wendung wie "er zeigt den Menschen hinter dem Dichter" wäre hier fehl am Platz.
Indem Feuchtwanger auch in größter Not und Verlassenheit selbst im Traum des Mittagshalbschlafes an Jefta weiterschreibt und sich mit seinem ganzen Leib und Leben diesem widmet, um über sich selbst Klarheit zu gewinnen, macht Modick klar, dass die Trennung von "Mensch" und "Dichter" ein Trugschluss ist.
Ein Dichter im Exil ist ein Mensch, der die Heimat verlassen musste. Er ist gezwungen, sie in der Sprache zu finden, doch das ist nicht die Sprache, die ihn umgibt. Und damit auch nicht die Kultur, aus der heraus er schreibt.
Die Exilliteratur ist eine eigene Kategorie innerhalb der Literaturgeschichte, weil sie unter besonderen Bedingungen entstand. Diese reflektiert Modick in seinem sehr gelungenen Roman über zwei Schriftsteller genau so mit,
wie die persönlichen Reaktionen auf das Leben in einem fremden Land.
Klaus Modick: Sunset
Eichborn Verlag, 2011, 191 Seiten
Kartoniert bei Piper, 2012, 191 Seiten